Herr Roth & Herr Schwartz und… die erste Leseprobe

… der Anfang

„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist.“ (Joh 1,1-3)

Doch ehe sie das Wort sprachen, ehe sie das Wort wurden, mußten sie einander kennenlernen.

Und wie lernten sie sich kennen?

Nun, so genau weiß das heute keiner mehr, aber das ist ja auch nicht wichtig. Irgendwie mußten sie sich wohl irgendwann kennenlernen. Es gibt Dinge im Leben, die müssen einfach geschehen, bewußt oder unbewußt, gewollt oder ungewollt, erwartet oder unerwartet, das Leben geschieht.

Herr Roth ist ein Idealist. Er hat immer das Große und Ganze im Blick und lebt melancholisch in den Tag hinein. Er hat ein Herz für alle kleinen Leute, mit denen er abends in den Kneipen sitzt und deren Sorgen, deren Ängste, deren Freuden und deren Wut er teilt. Herr Roth ist Kommunist. Er verachtet das kapitalistische System und dessen Auswüchse, was ihm jedoch nicht den Blick auf die Mängel der gescheiterten sozialistischen Versuche verstellt. Er selbst bezeichnet sich als Punk, ein provokativer Nonkonformist mit einem Hauch Ostalgie und einem Klassenstandpunkt. Eines Tages entdeckte Herr Roth die Literatur für sich. Nein, er las nicht Goethe und Schiller, was soll ein Punk damit? Er begann selbst zu schreiben, schrieb sich die Seele aus dem Leib, schrie seinen Zorn über das Geschehene und über das Geschehen in die Welt, doch die Welt hörte seine Rufe nicht. So war Herr Roth, so ist Herr Roth, und dann traf er eines schönen Tages irgendwo Herrn Schwartz.

Herr Schwartz ist ein Idealist. Er hat immer den einzelnen Menschen im Blick und lebt melancholisch in den Tag hinein. Er ist ständig auf der Suche nach seinem Weg, dem einzigen Weg, den nach seiner Ansicht jeder Mensch für sich finden sollte. Er sucht die Seelentiefe und versucht mit klarem Verstand, die Dinge des Lebens zu entschlüsseln. Herr Schwartz ist Individualist. Er verachtet alle Systeme, bestreitet sogar deren Existenz und sieht alles aus der Sicht des einzelnen, kleinen Menschen, dessen Bedeutung er ins Unermeßliche steigert. Er ist ein Denker, ein provokativer Konservativer mit einem Hauch von Nihilismus. Schon früh entdeckte Herr Schwartz die Literatur für sich. Er las die Klassiker der Weltliteratur und verehrte vor allem Hermann Hesse und Thomas Mann. Der hohe Anspruch an sich selbst verhinderte lange Zeit eigene schriftstellerische Versuche. Doch irgendwann begann er, die Merkwürdigkeiten des Lebens zu notieren und literarisch umzusetzen, merkwürdige Geschichten schrieb er. Langsam begann er, erste Schritte in den Dschungel des Buchmarktes zu gehen, die sich dort zunächst verloren. So war Herr Schwartz, so ist Herr Schwartz und dann traf er eines schönen Tages irgendwo Herrn Roth.

Nach einer vorsichtigen Annäherung kam man sich trotz aller Gegensätzlichkeit näher und lernte sich kennen. An dieser Stelle sollten wir die Perspektive wechseln und von der beschreibenden Ebene direkt in den persönlichen Austausch hineinsehen und dem kontroversen Disput der beiden Herren lauschen. Dazu stellen wir uns die beiden etwas angegrauten Herren im besten Alter, beide noch rank und schlank, mit gelehrten Brillen auf den fleischigen Nasen, die angesichts der ersten hochprozentigen Getränke schon leicht ins Rötliche tendieren, auf den harten Stühlen der Realität vor. Sie sitzen sich gegenüber, betrachten weltverloren ihre Umgebung und geben ein Bild der Gegensätzlichkeit ab. Der eine mit Dreitagebart, wirrer, halblanger, grau-schwarzer Haarpracht in extravaganten, bequemen Klamotten mit leichten Abnutzungsspuren. Der andere, dank zunehmend zurücktretender, silbergrauer Haarpracht, mit sehr hoher Stirn, moderner Brille, d’Artagnan-Bart, auch Victor-Emanuel-Bart genannt, in gepflegten extravaganten Edelklamotten. So sitzen sie sich gegenüber und diskutieren.