Der Dachziegel – erste Leseprobe

 

 

 

Vorstellung

Ich stelle mir vor, ich bin ein weißes Blatt, leer, klar, rein, vollkommen ich selbst. Ich stelle mir weiter vor, daß ich mir in meiner Jungfräulichkeit gefalle, mir selbst genug bin. Ich bin das Blatt und liege still und entspannt vor allem Geschehen. Glatt fühlt es sich an, das weiße Blatt, glatt, unberührt und von einer feinen Textur überzogen, die ihm Sicherheit und Halt gibt, die individuell ist und prägt. Doch irgendwann verblaßt der reine, strahlende Glanz des makellosen Weiß, und meine Gedanken, von heiter und sonnig bis grau und stürmisch, erfüllen mich und beginnen das Weiß zu trüben. Immer mehr sammelt sich an, bis sich Gedankenberge häufen. Dann muß ich schreiben, sie zu tilgen.

Weiter stelle ich mir vor, ich bin eine Feder, eine schöne, glänzende, fein ziselierte Schreibfeder in einem Füllfederhalter. Tief aus dem Inneren entströmt eine blaue Quelle der Erkenntnis und ergießt sich als Buchstabenfolge auf das reine Weiß des Papiers, das ich vorher war. Dieses ideale Bild des Schreibens mit Feder und Tinte auf Papier muß zwar im Endeffekt dem eher prosaischen Klappern einer Tastatur weichen, doch es erfüllt mich trotz dessen.

Ich stelle mir vor, ich bin ein Gedanke, eine Idee, ein Gefühl, eine Vorstellung, eine Geschichte aus dem Leben, und ich wäre einsam, von allen verlassen und fristete mein karges Leben irgendwo in den finsteren Tiefen eines Gehirns. Dann wäre ich traurig und würde mir wünschen, ich könnte mich mitteilen, man würde mich wahrnehmen, mich sehen, mich vielleicht sogar lieben, und genau das versuche ich zu erreichen, indem ich schreibe. Sicher, es handelt sich nur um den mehr oder minder interessanten Inhalt des Gehirns eines mehr oder minder interessanten Menschen. Manchmal versuche ich, in die Hirne anderer Menschen einzudringen und deren mehr oder minder interessante Inhalte zu ergründen. Doch es bleiben immer Versuche.

Können Sie sich so etwas vorstellen?

Dann begleiten Sie mich doch einfach ein Stück bei dem Versuch.