Pillnitzer Geschichten – dritte Leseprobe

 

Hase und Igel

Ein großer, eleganter Herr steigt aus einem großen, eleganten Cabriolet. Er fixiert angestrengt die schöne Landschaft ringsum. Mit fachmännischem Auge seziert er das Gelände, die Umgebung und sieht dann einen einfach gekleideten Mann ganz entspannt auf einer einfachen Bank sitzen und versonnen in die Ferne schauen. Auf seinen eleganten Edelmokassins aus feinstem Leder tritt er leise näher und schiebt dabei die extravagante Sonnenbrille auf die sehr geräumige Stirn, damit den Blick auf ein rundes, freundliches Gesicht mit kleinen, unternehmungslustigen Augen freigebend. Der große, schmale und sehr schlanke Herr ist in enge, strahlend weiße Hosen und ein ebenso weißes Poloshirt gekleidet, an denen er wohl am liebsten die Preisschilder belassen hätte, um ihren offenkundig bedeutenden Wert zu offenbaren. Er räuspert sich dezent und fragt dann unverblümt den in Gedanken versunkenen Mann auf der Bank: »Hm, Hm, Guten Tag, mein Herr, wissen Sie vielleicht, wem dieses Grundstück hier gehört?«

Dieser scheint, aus einem anderen Universum kommend, sich nur mühsam auf das Hier und Jetzt einlassen zu können und fragt nach einigen Augenblicken zurück: »Warum wollen Sie das wissen?«

»Ach, äh, einfach nur so. Aber was tun Sie hier eigentlich?«

»Ich studiere.«

»Was studieren Sie denn?«

»Die Natur, die Menschen, mich und alles Sein«, sagt der Mann nachdenklich.

»Und wozu, wenn ich fragen darf?«, hakt der große Weiße nach.

»Nun, um die Natur, die Menschen, mich und das Sein zu erkennen und zu verstehen.«

»Verstehe, davon kann man aber nicht leben. Sie müssen doch Geld verdienen. Was arbeiten Sie denn?«, will der offenbar sehr neugierige Herr in der sehr edlen Kleidung wissen. Bereitwillig gibt der Andere Auskunft: »Ich schreibe Geschichten.«

»Was denn für Geschichten? Krimis, Thriller, Liebesgeschichten?«

»Geschichten über das Leben.«

»Und damit verdienen Sie Geld?«

»Nein.«

»Aber dann müssen Sie doch andere Geschichten schreiben, Geschichten, die die Leute lesen wollen, die man gut verkaufen kann.«

»Warum denken Sie das?«, fragt der geduldige Mann und blickt den Weißen interessiert an. Dieser antwortet sofort ohne nachzudenken: »Wozu sollte man sonst Geschichten schreiben? Doch damit sie gedruckt und verkauft werden, und man damit möglichst viel Geld verdient.«

»Was soll ich denn mit dem vielen Geld machen?«

»Na, das höre sich einer an! Was Sie mit dem Geld machen sollen? Investieren natürlich, das Geld vermehren, sich etwas leisten. Passen Sie mal auf, Sie schreiben einen guten Krimi, den wollen die Leute immer lesen. Ich kümmere mich um einen Verlag, ich habe da so einige Beziehungen. Dann bekommen Sie Geld. Dieses Geld, oder zumindest einen Teil desselben, legen Sie bei mir an. Wir kaufen ein schönes Grundstück, so wie dieses hier, und bauen so viele Häuser wie möglich darauf, und diese Häuser verkaufen wir mit einem dicken Gewinn. Diesen Gewinn investieren wir wieder und gewinnen wieder und wieder und wieder, und irgendwann haben Sie ein paar Millionen auf dem Konto, so wie ich.« Der vornehme Herr hat sich in Rage geredet, fuchtelt wild mit den Händen und fährt mit glänzenden Augen fort: »Sie müssen einfach immer weiter investieren, immer den Markt beobachten und schauen, welche Möglichkeiten sich bieten, wo Investitionen gefördert werden, welche staatlichen Hilfen man einstreichen kann, welche neuen Felder sich eröffnen. Das Geld muß immer fließen, am besten in Ihre Taschen.«

Der Mann auf der Bank hört nicht sehr aufmerksam zu, was indessen der Andere gar nicht bemerkt. Er läßt den eleganten, aufgeregten Herrn einfach reden und reden und denkt sich seinen Teil dazu. Er lehnt sich gelassen zurück, genießt die Sonne auf seinem wettergebräunten Gesicht, das mit vielen kleinen Lachfalten verziert ist, und hängt seinen Gedanken nach. Als der redselige Geschäftsmann eine kurze Pause einlegt, kann er eine Frage stellen: »Was mache ich dann am Ende mit den vielen Millionen?«

Verblüfft stutzt der gutgekleidete Herr kurz, um sogleich weiterzuführen: »Na, was wohl? Sie kaufen sich ein tolles Grundstück, so wie dieses hier, Sie bauen sich eine große Luxusvilla mit Schwimmbecken, Saunalandschaft, eine Wohlfühloase mit Dienern, Koch, Gärtner und Chauffeur. Sie genießen einfach das Leben. Ab und an machen Sie noch ein kleines Geschäftchen, einfach so, um sich zu beschäftigen, so zum Spaß. Ein paar Euro mehr können ja nicht schaden. Sie setzen sich ganz entspannt hin und betrachten all Ihren Besitz. Sie legen die Beine hoch und können sich jeden Wunsch erfüllen. Sie könnten genau da sitzen, wo Sie jetzt sitzen, nur alles gehört Ihnen.«

»Hm, was habe ich da gewonnen?«

»Sie haben Besitz, sind reich, können sich alles leisten, müssen sich keine Sorgen mehr machen, können glücklich sein«, gibt der elegante Herr etwas irritiert zurück und fragt: »Wo und wie wohnen Sie denn jetzt?«

»Ich habe eine kleine, ganz auf mich zugeschnittene Wohnung hier in der Nähe mit allem, was ich brauche, habe nette Nachbarn, mit denen ich mich gut verstehe. Mir fehlt es an nichts«, sagt der Mann auf der Bank und blickt seinem Gegenüber frei und offen in die kleinen, unternehmungslustigen Augen. Dann sagt er ruhig: »Wissen Sie, wonach ich suche, weshalb ich die Welt beobachte? Ich suche wahren Reichtum, nicht äußeren Tand, und wahren Reichtum findet man nur im Inneren.« Dabei leuchten seine großen blauen Augen auf, und um seine Mundwinkel spielt ein fast schon spöttisches kleines Lächeln, während er verträumt in die Ferne blickt. Sie kennen doch sicher Stevenson, Robert Louis Stevenson?«

»Nein, wer soll das sein?«

»Nein? Nun, das ist der Verfasser unter anderem von Dr. Jekyll und Mr. Hyde.«

»Ach so, der. Doch, von dem habe ich gehört.«

»Dieser Stevenson bemerkte dazu: Ständige Hingabe an das, was ein Mann sein Geschäft nennt, kann nur durch dauernde Vernachlässigung vieler anderer Dinge aufrechterhalten werden. Aber ich muß mich bei Ihnen bedanken, Sie haben mir sehr geholfen.«

»Wobei habe ich Ihnen denn geholfen?«

»Sie haben mir geholfen, eine Entscheidung zu treffen.«

»Was für eine Entscheidung?«

»Sie haben mir geholfen, die Entscheidung über dieses Grundstück zu treffen. Ich habe es geerbt und habe überlegt, was ich damit tun soll. Dank Ihrer fällt mir die Entscheidung leicht. Ich werde das Grundstück nicht verkaufen, sondern der Natur zurückschenken. Ich werde wertvolle Bäume darauf pflanzen, die man nicht fällen darf und werde ansonsten der Natur freien Lauf lassen. Und wenn ich sterbe, werde ich verfügen, daß dieses schöne Stück Land allen zugänglich ist und nie bebaut werden darf.«

Bei diesen Worten öffnete sich der kleine, beredte Mund des großen, eleganten Herrn mehrmals, wie bei einem Karpfen, der nach Luft schnappt. Dann fügte der einfach, aber gediegen und vor allem praktisch gekleidete ältere Herr auf der alten Holzbank noch an: »Und dann danke ich Ihnen für diese wunderbare Geschichte über Hase und Igel und inneren Reichtum.« Damit wendet er sich ab, um sich erneut hingebungsvoll der Tätigkeit des Nichtstuns zu widmen.