Der Dachziegel – zweite Leseprobe

 

Weiß

Es ist Januar, nicht gerade mein Lieblingsmonat. Es ist ein neuer grauer Morgen. Doch es hatte geschneit. Die Welt ist weiß wie ein unbeschriebenes Blatt. Jemand hat barmherzig eine große weiße Mullbinde über die Wunden, die der Mensch der Natur geschlagen hat, gelegt und dem weinenden Auge entzogen. Nach einem ausgiebigen Frühstück hülle ich mich warm ein und betrete sodann diese neue, reine, weiße Tafel, die der Morgen mir angerichtet hat. Ich erklimme den Hang hinter dem Haus und stehe alsbald auf der Hochebene über den Häusern des kleinen Vorortes der großen Stadt.

Vollkommen unberührt breitet sich die weite Flur vor mir aus. Ihr Ende ist kaum vom Beginn des grauen bleischweren Himmels zu trennen. Anfang und Ende verschwimmen. Gibt es Anfang und Ende überhaupt, oder ist alles nur ein stetiger Wechsel, ein ewiger Kreislauf?

Rein und unschuldig liegt der weiße Teppich vor meinen staunenden Blicken wie eine große, weiße Leinwand, die ich neu beschreiben kann. Doch was soll ich schreiben? Ich gehe einen nur zu ahnenden, weißen Weg über das weiße Feld und muß an ein schreckliches Propagandabuch namens »Neuland unterm Pflug« von Michail Scholochow denken, mit welchem ganze Generationen von Schulkindern in der DDR gequält wurden. Ich will jedoch dieses makellose Weiß nicht umpflügen, sondern seine Reinheit genießen. Die Reinheit, die Stille und die scheinbare Unberührtheit der Natur legen sich wie Balsam auf meine wunde Seele. Der akustische Dämmstoff Schnee dämpft alle Geräusche, das leise Seufzen der Natur, die stillen Schreie der gequälten Kreatur, die dissonanten Töne der motorisierten Anbeter des Gottes Mammon. Die Welt scheint wie in Watte gehüllt, surreal, schön, ungewohnte tonlose Stille, die sich leise ins Gemüt schleicht und selbst das Denken zur Ruhe kommen läßt. Ich beginne zu sein.

Schritt für Schritt erobere ich Neuland, Neuland unterm Fuß sozusagen. Langsam setze ich Fuß vor Fuß und lausche dem Knirschen unter meinen Schritten. Welcher überlegene Geist hatte sich so etwas erdacht? Wessen grandiose Phantasie schuf eine derartige weiße Zauberwelt? Die sonst dürren, schwarzen Äste der wenigen alten Bäume am Wegesrand zeichnen heute bizarre weiße Arabesken in den grauen Himmel, und ihre Ornamente überranken meinen Weg mit einem glitzernden Schleier. Tierspuren, von Rehen, vom Fuchs, vom Marder, von Wildschweinen kann ich erkennen, Zeichen des Lebens in der abweisenden Kälte. Sie zeigen mir, daß ich nicht allein bin in dieser weißen Unendlichkeit. Sie zeigen mir, daß es viele verschiedene Lebensformen gibt, die alle gleichberechtigt nebeneinanderstehen sollten. Doch der Mensch maßt sich an, der Herrscher über alles Leben zu sein, über alles Leben, über alles Sein, über alles, bis der Tod ihn in seine Schranken weist. Der Tod als Vollender aller hochfliegenden Träume. Der Tod als Vollstrecker des lebensvernichtenden Daseins des Menschen. Der Tod ist konsequent. Der Tod ist unerbittlich. Der Tod ist gerecht. Der Tod ist die Schattenseite des Lebens, ohne die es jedoch kein Leben gäbe. Leben und Tod sind zwei Seiten einer Medaille, so wie Gott und Teufel oder Yin und Yang oder Mann und Frau oder meine hochfliegenden Gedanken und meine armseligen Taten. Doch vielleicht sind ja die Gedanken die Taten des Dichters.

Ich schreite voran und setze meine Füße in eine neue Welt, wie einst der erste Mensch seine Füße in eine neue Welt setzte. Wie einst Neil Armstrong seine Fußabdrücke als erster Mensch auf dem Mond hinterließ. Ich bin ganz allein in dieser weiten, weißen Welt. Ich betrete Neuland und habe keinen Plan. Was soll ich tun in dieser neuen, weißen Welt? Was kann ich tun? Was kann ein einzelner kleiner Mensch bewirken? Ich fülle das weiße Blatt vor mir mit meinen Gedanken. Wen interessieren diese Gedanken? Mit jedem Buchstaben schreibe ich ein Stück meiner Lebensgeschichte, ein winziges Stück der Menschheitsgeschichte. Ich hinterlasse einen Fußabdruck, man kann meine Spur verfolgen. Nur heute, weil ich der Erste hier oben bin? Mit jedem Schritt, der mich voranbringt, komme ich meinem Ziel näher. Welchem Ziel? Genau das will ich herausfinden, heute, morgen, immer wieder. Hat unser Leben ein Ziel? Hat das Dasein einen tieferen Sinn? Oder ist der Sinn einfach nur unser Dasein mit alldem, was wir eben so tun? Das Leben als ein gigantischer Verladebahnhof mit tausend Weichen. Sind diese Weichen schon voreingestellt? Gibt es einen großen Plan? Oder können wir selbst, jeder für sich, unsere Weichen selbst stellen? Oder glauben wir, die Weichen selbst zu stellen und folgen damit nur dem göttlichen Fahrplan, und egal welche Weiche wir wie stellen, wir kommen immer an dasselbe Ziel? Jede Weiche ist eine neue Entscheidung. Nach jeder Weiche verzweigen die Wege tausendfach neu, und wir müssen uns täglich entscheiden, oder es wird für uns entschieden, tausend Wege, tausend Fragen, tausend Hoffnungen, tausendfaches Glück, tausendfaches Leid, tausend Tode.

Von der Seite stößt eine Spur auf meinen Weg. Ein anderer Mensch hat seine Schritte von nun an vorher auf diesen, meinen Weg gesetzt. Etwas später folgen weitere Spuren. Irgendwann wird mir klar, daß ich einen Weg gehe, den schon viele vor mir gegangen sind. Meine Vorfahren vor Jahrtausenden haben damit begonnen, und ich folge ihnen noch immer. Sie sind in mir. Ihre Erfahrungen sind in meinen Genen abgebildet, ihr Wissen arbeitet in meinem Gehirn, ihr Tod bereichert mein Leben.

Alles ist weiß, die ganze Welt um mich herum ist aus demselben weißen Material. Alles Leben, alles Sein, alles auf Erden ist aus demselben Material in den verschiedensten Ausprägungen. Wir haben alle denselben Ursprung. Alles ist aus denselben Bausteinen geformt, die Tiere, die Pflanzen, die ganze Natur, die Menschen. Alles gehört zusammen. Warum trennen wir eingebildeten Herrscher das Leben? In höheres und niederes, in besseres und schlechteres, in sinnvolles und unsinniges, in lebenswertes und nicht lebenswertes? Was maßt der Mensch sich an? Kein Mensch ist besser als ein anderer, besser als ein Tier, eine Pflanze, als Flüsse und Bäche, als Berge und Täler, als Meere und Ozeane, als irgend etwas anderes im Universum. Er ist nur anders. Ich bin anders.

Ich blicke auf und sehe rot. Ein Mensch kommt mir entgegen, ein kleiner roter Flecken im unendlichen Weiß. Eine Frau kommt mir entgegen, wie ich an ihrem anmutigen Gang erkenne. Eine große, schlanke, schöne Frau. Sie lächelt mir schon von weitem entgegen. Diese Frau kommt mir bekannt vor. Sie kommt direkt auf mich zu. Sie läuft schneller, so wie ich. Sie breitet die Arme aus, so wie ich, und wir fallen uns um den Hals, und unsere kalten Lippen treffen sich heiß und strahlen Wärme in unsere Herzen. Meine Frau kam mir entgegen, und die weiße Welt wurde bunt. Ihre Augen strahlen wie der helle Morgen, und ihre Liebe breitet sich wie eine wärmende Decke über meine erstarrte Seele. Ich bin nicht allein in dieser weißen Wunderwelt. Ein wunderschöner Tagtraum, der fast jeden Tag Realität wird.

Zu lieben und geliebt zu werden, ist das höchste Glück auf Erden.

Ich öffne die Augen und sehe nur weiß, eine große, weiße Fläche, eine weiße Höhe, in der Ferne kleine, weißbedachte Häuser und einen weißen Wald, auf den ich nun zugehe. Das Leben ist ein Wunder. Die klare Reinheit der Luft öffnet mir den Blick für die Schönheit dieser Welt, auf das Verbindende allen Seins, auf die Liebe zur Natur, auf die Liebe. Das endlose Weiß blendet die Augen, soviel weiße Unschuld ist fast schmerzhaft. Dabei scheint uns das Weiß nur als weiß, weil die transparenten Kristalle alle sichtbaren Wellenlängen des Lichtes reflektieren und streuen. Von daher ist eine Schneeflocke nicht das Nichts, sondern das Alles. All diese winzigen Kristalle, tausendfach verknüpft, bilden einen Teppich des reinen Nichts. Lausche ich in dieses absolute Nichts, dann höre ich – nichts. Nur das Rauschen des Blutes, nur den Hauch meines Atems, nur den Klang der Stille, den reinen Klang des Nichts.

Die grauen Wolkenberge, die sich noch eben über mir auftürmten, zeigen plötzlich Risse, wie helle Äderchen durchziehen sie den grauquellenden Himmel. Jetzt ist sogar ein winzig kleiner, blauer Flecken zu sehen, und gleich darauf dringt ein gleißender Schimmer hindurch, glühendes Gold durchsticht drohendes Grau vor blaßblauem Hintergrund. Vor mir unendliches Weiß und mir scheint es, als hätte in diesem Moment eine unsichtbare Geisterhand Diamantenstaub auf den Schnee gestreut, der sich vor mir wie ein Glitzerteppich mit Millionen von Brillanten ausbreitet. Ich kann das gleißende Flimmern in Weiß und allen Regenbogenfarben kaum ertragen, blicke zurück und sehe meine Spur, die aus dem Nichts des Gestern zu kommen scheint. Ich sehe nach vorn, wo sich das Weiß im fernen Grau des Horizonts verliert, im Unendlichen versinkt. Ich mittendrin.

Leiser Schneefall setzt ein, läßt neue weiße Blüten des Vergessens auf die Erde fallen. Das Gestern schwindet, das Morgen wird diffus. Der Schnee fällt wie der Sand in der Uhr des Lebens, verdeckt allen Schmerz, überzieht alles Leid, das wie schlammiger Morast unter der weißen Oberfläche droht. Weiß strahlt es und rein, hell und golddurchwirkt in meine Seele, krönt Äste und Zweige, läßt sie wie weiße Spinnennetze wirken, ein Gewirr, ein Chaos in vollendeter Harmonie. Winzige Schneeflocken bedecken meinen schwarzen Ärmel. Ich betrachte sie und sehe vollendete Harmonie. Eine einzelne Flocke ist ein feinziseliertes geometrisches Muster mit winzigsten Verästelungen in vollkommener Symmetrie, die nun vor meinen erstaunten Augen langsam schwindet, ein Hauch der Vollendung verdampft auf schwarzem Grund. Ich blicke auf und sehe nur noch weiß, weiß in weiß auf weiß. Ein weißes Meer weitet sich vor meinen weinenden Augen. Die Konturen verschwimmen, die Formen zerfließen, ein weißes Nichts und doch soviel…, alles.