Der Dachziegel – dritte Leseprobe
Der Dachziegel
Da liegen sie alle vor mir aufgereiht, wie die Perlen einer Kette, die Rauensteine, der Zirkelstein, Lilienstein, Bärenstein, Gorisch, Papststein, Königstein, Pfaffenstein, der große Schneeberg und wie sie alle heißen, ein herrlicher Ausblick an diesem herrlichen Tag im Wonnemonat Mai, der leider bisher so wenig Wonne mitbrachte. Ein kühler Wind, der plötzlich aufkommt, läßt mich fröstelnd Zuflucht in meiner Jacke suchen, der ich mich kurz zuvor so freudig entledigt hatte. Der Aufstieg hierher, zu meiner Lieblingsbank, der Poetenbank, wie ich sie gern nenne, hatte mich doch etwas erhitzt, und übermütig hatte ich das wärmende Kleidungsstück von mir geworfen.
Diese einfache Holzbank mit Schreibtisch haben wohl einst wohlmeinende Gönner hier errichten lassen. Frau oder Herr oder Frau und Herr Lunkewitz waren die generösen Spender, wie einem kleinen, bescheidenen Schild zu entnehmen ist, und immer wieder bin ich ihnen dankbar für diese edle Tat. Denn dieser besondere Platz läßt mich träumen, die Poesie des Lebens genießen, regt meine Phantasie an und gibt mir Ruhe und Schöpferkraft. Stundenlang könnte ich hier sitzen an diesem magischen Ort und in die Betrachtung der so widersprüchlichen Welt versinken. So manche Tintenpatrone schrieb ich hier leer. So manche Grille pflegte ich hier. So manche Fragen stellten sich mir.
Versonnen blicke ich in die bergige Ferne mit ihren eindrucksvollen Gipfeln, die sich so markant vor mir erheben. Weiter vorn sehe ich eine kleine Ortschaft mit bunten Häusern und roten Dächern. Seltsame Flugkörper schwirren scheinbar ziellos vor meinen erstaunten Augen. Eine Vielzahl etwa einen Zentimeter großer Insekten mit merkwürdig überdimensionierten Beinen, die weit von ihren schwarzen Leibern herabhängen, bevölkert die klare Luft vor mir. Man hält es kaum für möglich, daß ihre zarten durchsichtigen Flügelchen sie in der Luft zu halten vermögen. Aufgeregt schweben sie hin und her und her und hin, und man fragt sich nach dem Sinn. Nun frischt der Wind erneut auf, treibt mutwillig trockene Blätter vor sich her. Und wie er so bläst und die Blätter tanzen läßt und wie die eigenartigen langbeinigen schwarzen Flieger durch die Lüfte taumeln, da entsteht ganz plastisch ein Bild vor meinem geistigen Auge.
Es erscheint ein mittelgroßes Haus mit einem roten Ziegeldach. Darunter, auf dem Gehweg, sehe ich einen Menschen stehen, und ich spüre den Wind, der mehr und mehr an Stärke zunimmt, aufbraust und übermütig mit einer kräftigen Bö über das Dach fegt, daß die Ziegel ängstlich zu klappern beginnen. Einer dieser Ziegel nun, der sich mit letzter Anstrengung soeben noch festklammern konnte, hielt der neuerlichen Windbö nicht mehr stand, mußte dem Alter Respekt zollen, sah schließlich keine andere Möglichkeit mehr, gab erschöpft und entkräftet jeden Widerstand auf und fügte sich in sein Schicksal. Dieses wiederum beschloß, seinem Fall eine besondere Bedeutung zu verleihen und ließ ihn mit großer Kraft direkt auf dem Kopf des untenstehenden Mannes, nennen wir ihn Herrn X, landen. Ein so großer Dachziegel, aus so großer Höhe, mit so großer Wucht geschleudert, zeigt uns in aller Deutlichkeit die ganze gewaltige Macht des Schicksals und beendete auf diese grausame Weise abrupt und tragisch das Leben der Herrn X.
Herr Y, der sich noch vor einer Sekunde angeregt mit Herrn X unterhalten hatte, stand starr und wie versteinert vor seinem leblosen, ehemaligen Gesprächspartner, der in einer Blutlache zu seinen Füßen lag und schwieg, für immer schwieg. Dachziegelreste bildeten etwas wie eine Dornenkrone um sein zerschmettertes Haupt und Herr Y dankte dem Schicksal, daß es nicht ihn erwählt hatte, die blutige Dornenkrone zu tragen.
Doch war es wirklich das Schicksal, welches Herrn X das Leben nahm? Oder war es der Zufall? War es der Wind? War es seine Nikotinsucht, die ihn veranlaßte, neue Suchtmittel kaufen zu gehen? War es der Streit mit seiner Frau, der ihn bekräftigte, diesen Entschluß kurzfristig in die Tat umzusetzen? War es die Geschwätzigkeit von Herrn Y, die ihn stehenbleiben ließ, um sich von ihm in ein Gespräch verwickeln zu lassen?
Betrachten wir die Tatsachen. Ein Ziegel stürzt herab und erschlägt einen Menschen. Der Ziegel war bereits lose wegen vernachlässigter Reparaturarbeiten. Der Wind blies mit besonderer Stärke, wie es in letzter Zeit häufiger geschieht, durch den vom Menschen verursachten Klimawandel. Der Mensch zerstört sich selbst, könnte man schlußfolgern, und Herr X ist dabei lediglich ein Kollateralschaden.
Aber ist es nicht einfach der Zufall, der einen Dachziegel genau in diesem Moment genau auf den Kopf von Herrn X stürzen läßt? Hätte Herr X versöhnliche Worte für seine Frau gefunden, hätten sie ihren Streit begraben und sich zum Abschied einen Kuß gegeben, dann wäre der Herr X dem Herrn Y nicht begegnet. Herr Y wäre zehn Schritte weiter in eine Seitenstraße eingebogen, und der Ziegel hätte Herrn X nicht getroffen, selbst wenn er gefallen wäre. Ist also die Beziehungskrise schuld am Tod von Herrn X? Ist er selbst schuld, weil er seine Nikotinsucht nicht beherrschen konnte, weil er die Ehekrise nicht beenden konnte? Trägt die menschliche Gesellschaft die Verantwortung, weil sie die Menschen in Süchte treibt, weil sie die zwischenmenschlichen Beziehungen belastet, weil sie einsame Menschen verzweifelt nach Kontakten suchen läßt, wie Herrn Y, dessen Frau schon vor Jahren starb und der schon lange allein lebt? Oder trägt dieser vermaledeite Virus die Schuld am ganzen Drama? Der Virus, das Virus, die Menschen wissen nicht mehr ein, noch aus. Zur Beruhigung sei gesagt, daß beides richtig ist. Früher war die Bezeichnung das Virus nur in medizinischen Fachkreisen üblich. Heute sind wir alle Mediziner und verdrängen somit den Artikel der vom Virus, was diesem indessen herzlich egal ist. Ebenso wie es vielen Menschen einerlei ist, was irgendwelche Regierungen zur Eindämmung der Pandemie beschließen. Manche können noch nicht einmal bis drei zählen, hat man den Eindruck, wenn man die großen Personengruppen betrachtet, wo sich doch nur Personen aus einem Haushalt mit einer weiteren Person treffen dürfen. Ja, einige haben so große Furcht vorm Leben, daß sie ihre diffusen Ängste irgendwie kanalisieren müssen und Schuldige suchen: Bill Gates, der allen einen Chip einimpfen will, um sie zu manipulieren, eine finstere Weltverschwörungsgruppe, die aus atomsicheren Bunkern unser aller Leben bestimmen will, die Pharmaindustrie, die Rüstungsindustrie oder einfach nur »die da oben«, die uns alles Mögliche einbrocken wollen.
Herrn X ist das alles nun egal, der oder das Virus, alle verdrehten Ver-Querdenker, alle Diskussionen, alle Ursachen, alle Folgen. War es Schicksal, so hatte sich seine Bestimmung erfüllt. Wäre es indessen ein Zufall, so änderte das nichts am Ergebnis: Herr X ist tot. Damit wäre jedoch nicht nur sein Tod zufällig, sondern auch seine Geburt.
Da treffen sich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort zwei Menschen, ein Männchen und ein Weibchen. Sie fühlen sich zueinander hingezogen und legen sich zueinander und führen den Geschlechtsakt aus. Und unabhängig davon, ob der Geschlechtsverkehr für einen von beiden oder für beide oder für keinen von beiden ein beglückendes Erlebnis war, unabhängig davon, ob es nur eine Liebesnacht oder die Folge einer langjährigen Liebesbeziehung war, unabhängig davon, was danach geschah, ein Glied traf auf eine Scheide, und aus dem erigierten männlichen Penis ergossen sich Millionen von Samenfäden in die weibliche Vagina. Es folgte ein mörderischer Kampf, ein brutales Rennen um den Sieg. Nur ein Spermium konnte die bereite Eizelle befruchten. Nur eines trägt den Sieg davon, und alle anderen müssen sterben, und aus diesem einen entsteht ein bestimmter Mensch, in unserem konkreten Fall: Herr X. Der Mensch als Zufallsprodukt. Folgen wir nun dieser Annahme, so ist das weitere Leben des Menschen nur von Zufällen geprägt. Zufällig trifft er Freunde, zufällig erlernt er irgendeinen Beruf, zufällig trifft er seine Frau, zufällig begegnen ihm alle Dinge im Leben. So ist folgerichtig auch sein Tod ein reiner Zufall. Ist die Geburt ein Zufall, so müssen wir dankbar für diesen Zufall sein, denn er bescherte uns das Leben. Dann müssen wir jedoch den zufälligen Tod genauso akzeptieren wie das zufällige Leben. Das Leben als ein willkürlicher Akt des Universums. Das Leben ist nichts als ein Schnipsel Zeit, der beim Ausschneiden der universellen Matrix herabfiel. Und dieser Schnipsel war Herr X…