Dorothea Kriebelbein – erste Leseprobe

 

Ankunft

Als ich mich und den schweren Koffer aus dem Zug heraus auf den Bahnsteig gewuchtet hatte, schlug mir die millionenfache Hitze eines Spätsommers entgegen. Sofort war ich eingelullt: warm, geborgen, zerfließend. Das ist die Großstadt, dachte ich, das ist also Köln. Gott sei Dank paßte ich mich augenblicklich an meine Umgebung an: in meinem Kopf summte eine Vielzahl von ungewohnten, ungekannten Gedanken. Die surrten mit ungeheurer Geschwindigkeit hin und her. Sehr lustig! Das ging so schnell, daß ich nicht folgen konnte. Ich bin der langsame Typ, langsam und behäbig.

Wo ich hergekommen bin? Die Reise war sehr weit und nie langweilig, denn die ganze Zeit schaute ich aus dem Fenster. Niemals konnte ich einen bekannten Ort erkennen. Da wußte ich: Die Welt ist noch unentdeckt. Riesig muß die unentdeckte Welt sein, ich kam an unendlich vielen Städten vorüber, großen und kleineren. Und es gibt Flüsse und Berge und Brücken und Burgen und Felder und Wälder. Und überall gibt es fremde Menschen. Ich bin ein Ausländer in dieser weiten Welt.

Irgendwo zwischen der dritten und dreizehnten Station habe ich den Namen des Dorfes, aus dem ich stamme, vergessen: so unbedeutend ist die kleine Ortschaft auf dem Lande, die mich als Säugling, Kind, Bäuerin, Frau und Mutter gesehen hat.

Wo ich hergekommen bin? Aus dem Zug. Ich stieg an diesem Spätsommertag aus dem kühlen Zug und wurde von der Hitze einer gewaltigen Stadt aufgesogen. Die berühmte Stadt Köln muß gewaltig sein, schon innerhalb der riesigen Überdachung des Bahnhofs tummelte sich eine Unmenge an Menschen, mit und ohne Gepäck, wie ein Schwarm aufgescheuchter Ameisen. Ich mittendrin, verwirrt und voll unbekannter Gedanken. Zum Beispiel: Wo soll ich jetzt hin? Was mache ich so allein in dieser fremden großen Stadt? Wie soll ich meinen schweren Koffer transportieren? Und viele Gedanken mehr, diese waren allerdings zu schnell, um sich von mir erwischen zu lassen.

Zuerst einmal: raus aus dem Bahnhof! Ich wollte hinein in die Stadt, mich unter das Volk mischen, unauffällig teilhaben an den wichtigen Geschäften und Bemühungen. Das nämlich spürte ich sofort: Hier in der großen Stadt war alles wichtiger, ernster, bedeutender als zu Hause.

Zu beneiden sind alle die, deren Koffer mit Rollen versehen sind. Mir schlug das steife Leder meines archaischen Gepäckstücks mit jedem Schritt gegen das Bein. Aber ich mühte mich, wie ich mich immer gemüht hatte, und schon hatte ich den Bahnhof hinter mir gelassen, und schon riß ich meinen Kopf voll Staunen in die Höhe: Wie Raketen schossen die Türme des Kölner Doms in den Himmel. Es kann keinen Zweifel daran geben, daß die Götter selbst am Bau dieses Giganten beteiligt waren!

Direkt neben der unwirklichen Kulisse des Doms taucht eine Frage auf: Ist Köln ebenso groß wie Mykene, Amyklai oder gar das göttliche Troja?

Eins steht fest, in Köln gibt es viele Autos. Sie summen und brummen fast noch schneller und lauter als die Gedanken eines frisch verstädterten Dorfmenschen.

Wohin sollte ich mich wenden? Ich entschied mich für den Taxistand. Taxifahrer wissen alles und transportieren auch die schwersten Koffer. Bis zum Taxi sollte ich allerdings nicht kommen. Kaum hatte ich mich vom ersten Staunen erholt und meinen Koffer wieder aufgenommen, da wurde ich angesprochen:

»Junge Frau, hamse ma npaar Minutn Zeit? Ich willSe nich belästign, nur ne Frage. Ich bin obdachlos, hab kein Bett zum Schlafn und kein Einkommen. KönntenSe mir vielleicht mit was Kleingeld aushelfn?«

Ich nutze die Gelegenheit, um meinen Koffer wieder abzustellen. »Zeit? Zeit habe ich genug«, sage ich. Ich mustere den Herrn, nett sieht er aus. »Aber Kleingeld? Leider nein. Ich hab im Moment nur große Scheine.«

Er schaut mich mit einem prüfenden Blick an. Glaubt er mir nicht? »Sie haben auch kein Bett zum Schlafen?, mache ich Konversation. Kaum komme ich in eine fremde Stadt, schon mache ich nette Bekanntschaft! »Da geht es Ihnen genau wie mir. Wir sind sozusagen in der gleichen Lage. Ich bin gerade angekommen und habe keine Bleibe. Vielleicht sollten wir uns zusammentun? Was meinen Sie? Gemeinsam finden wir bestimmt eine Lösung.«

»Nach Lösungn suchich schon lang nich mehr. Was solln das? Kleingeld is de Lösung!«

»So?« Ich bemühe mich, den Satz zu speichern. Wenn ich Zeit habe, werde ich darüber nachdenken. Kleingeld ist also die Lösung. Aber im Bett schlafen ist doch auch schön, gebe ich zu bedenken.

»Mmhh«, sagt er, dann Schweigen.

Ich nehme meinen Koffer wieder auf, da faßt er mich an den Arm: »Sollich Ihnen’n billiges Hotel zeign?«

Ich überlege. Wie ein quengelndes Kleinkind zieht mein Koffer an mir. »Ist es weit?«, frage ich vorsichtig.

»Nee, ganz inner Nähe, kein Problem.«

»Also gut«, sage ich, »dann spare ich mir das Taxi.«

Er zeigt mir den Weg, wir gehen…