Dorothea Kriebelbein – zweite Leseprobe

 

Emil

Mir ist kalt, die Heizung funktioniert nur manchmal. Ich unterhalte mich mit Gott. Er sagt: »Mein Chef ist super, da habe ich wirklich Glück gehabt. Mit Chefs ist das so eine Sache! Erst bist du von ihnen beeindruckt, und dann… Na ja, ich habe jedenfalls großes Glück mit meinem Chef. Er hat Format, ist sehr intelligent, aber nicht eingebildet. Er akzeptiert mich, er bezieht mich mit ein, sucht meinen Rat. Ja, er sucht meinen Rat…«

Gott sitzt in unserem gemeinsamen Zimmer an unserem kleinen Tisch auf dem einzigen Stuhl und trommelt mit den Fingern auf die Tischplatte ohne Tischdecke. Es klingt nach Plaste, er schaut sinnend durch mich hindurch, ich sitze auf dem Bett, ich bin stolz auf ihn.

»Heute hat er mir, stell dir mal vor, so schnell, hat er mir das Du angeboten.« Sein Blick sucht meine Augen. Er nickt bedeutungsschwer: »Ich sage jetzt Dieter zu ihm.« Prüfend schaut er mich an. Ich lächele zufrieden: Er ist zufrieden.

»Bald bekomme ich meinen ersten Lohn… Seit langem das erste selbstverdiente Geld! Ja, bald ist es soweit, ich bin wieder im Geschäft! Ich bin wieder da!«

Draußen scheint die Sonne, es ist kalt, der Himmel ist blau, alle Träume fliegen hoch. Drinnen knackt es in der Heizung, das könnte Wärme bedeuten. Oder etwas anderes. Oder nichts.

»Er will mir auch helfen, eine Wohnung zu finden. Ich habe ihm natürlich nicht erzählt, wie ich hier… Ich meine, ich habe gar nichts erzählt, lediglich, daß ich eine Wohnung suche. Und stell dir vor: er will mir helfen! Er kennt nämlich so einige Leute, von den richtigen natürlich. Na ja, das ist kein Wunder, er hat schließlich ein Architekturbüro, da hat man so seine Kontakte, und mein Chef ist ein cleverer Mann. Verstehst du? Bald habe ich meine eigene Wohnung, ist das nicht phantastisch? Dann kann ich endlich aus dieser Bude ausziehen, dieser elenden Notbehausung unter dem Dachboden. Nicht einmal ordentlich geheizt ist hier, ein Scheißloch.«

Ich freue mich für ihn, eine Fliege krabbelt über den Tisch, er schlägt zu, daneben.

»Bitte, tun Sie meinem Haustier nichts zu Leide!«, rufe ich erschrocken.

»Was denn für ein Haustier? Du meinst doch nicht diese Scheißfliege?«

Das ist Emil, erkläre ich, er wohnt schon seit drei Tagen bei uns. Manchmal setzt er sich sogar auf meine Schulter.

»Bist du jetzt völlig durchgedreht?«

»Er ist mein einziges Haustier, ich habe ihn Emil genannt. Ich bin es von früher her gewohnt, mit Tieren zusammenzuleben.«

»Das sieht dir ähnlich: kümmerst dich sogar um Scheißfliegen! Nur um dich nicht. Vertrödelst deine Zeit mit dieser niederen Arbeit: Zimmermädchen.«

»Mein Vater hat mir eingeschärft, auch in jedem Tier einen Gott zu erkennen. In welches Tier hat sich Zeus nicht verwandelt?«

»Was hat Zeus damit zu tun? Das ist eine verdammte Scheißfliege, sie setzt sich auf Scheiße, sie frißt Scheiße, sie taugt nur für die Fliegenklatsche!«

Emil hat sich ans Fenster geflüchtet. Als wäre nichts gewesen, krabbelt er über die Scheibe und genießt die Aussicht. Emil ist ein kluges Tier.

»Statt deine Zeit mit Stubenfliegen zu vertrödeln, solltest du anfangen, an deine Karriere zu denken. Willst du ewig ein dummes Zimmermädchen bleiben? Du könntest dich bilden, deinen Geist stärken. Ist es nicht die hohe Geistigkeit, Intelligenz und Wissen, die uns Menschen über das Tierreich erhebt?«

»Seit wann stehen wir höher als die Tiere?«, sage ich. »Ich dachte, die Tiere wären die Klügeren. Großmutter hat immer die Schafe auf der Weide beneidet: ›Sie stehen da und rupfen Gras mit ihren Mäulern, sie spazieren, sie lümmeln sich, sie fressen und verdauen, der Bock springt ab und zu hinten auf, Lämmchen werden geboren und diese fressen dann Gras…‹«

»Und was ist mit Zivilisation, Kultur, Religion? Die Errungenschaften der Menschheit! Die Wissenschaften! Philosophie! Die Pyramiden, der Petersdom, Beethovens Neunte oder Goethes Faust?«

»Sicher, jeder beschäftigt sich, so gut er kann, aber meine Großmutter hielt es mit den Glücklichsten, den Zufriedensten, den Schafen. ›Die brauchen keine Psychologen und Psychiater, Hauptsache sie haben genug Gras‹, sagte sie manchmal.«

»Du bist und bleibst ein dummes Schaf!«

»Löwen finde ich auch gut, die werden höchstens im Zoo unglücklich. Das habe ich als Kind gesehen: da trottet der König der Tiere mit gesenktem Kopf immer auf und ab, von Gitter zu Gitter, das Maul sperrt er nur zum Gähnen auf.«

Mit den Fingern trommelte er auf die Tischplatte, der blaue Himmel verabschiedete sich mit zartem Rosa, Helios neigte sich dem Okeanos zu, mächtig klopfte es an die Tür. Die Tür öffnet sich weit: Elfriede steht im Zimmer. Keuchend schimpft sie in den Raum: »Lange mache ich das nicht mehr mit. Die Chefin hat mich hochgejagt. Ich bin doch kein Laufbursche! Von ganz unten nach ganz oben! Was denkt die sich eigentlich? Dafür werde ich nicht bezahlt!«

Elfriede steht in der offenen Tür und schnappt nach Luft. »Du«, sagt sie, und ihre Worte kommen aus dem auf mich gerichteten Zeigefinger geschossen: »Du sollst in die Nummer 1 kommen, Telefon für dich! Aber mach das nicht nochmal! Ich renne nicht wieder durchs ganze Haus, um der gnädigen Frau Bescheid zu geben, daß ein Anruf auf sie wartet!«

Ich sitze und staune, Emil hat seinen Fensterplatz verlassen, er kreist über dem Tischchen.

»Na mach schon! Telefon für dich!«, sagt Elfriede ungeduldig.

Ich mache schon, springe vom Bett, Elfriede macht mir Platz, ich verlasse das Zimmer. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie ein junger Gott nach Emil schlägt: Hoffentlich kann Emil sich retten, denke ich und steige Treppen. Ich klopfe an die Bürotür, ich trete ein. Hinter dem Schreibtisch sitzt die Lippenlose und schaut mich böse an: »Bitte keine Privatgespräche auf die Geschäftsleitung. Ich hoffe, das war das letzte Mal!«, sagt sie und weist aufs Telefon.

Ich nehme den Hörer: »Hallo?«…