Leseprobe: Die neuen Leiden des jungen Sebastian

01.05.1975

Ihr zu Hause!
Herzliche Pfingstgrüße wünscht Euch der gegen seinen Willen Soldat gewordene Sebastian. Das Wetter ist hier sehr schön, man hat herrliche Weitsicht, Wald, Luft, Sonne. Ich habe theoretischen Unterricht, das macht Spaß, weil ich mich dafür interessiere. Andere haben Schwierigkeiten, vor allem weil der Unterricht schnell, sehr schnell und ohne Wiederholung geführt wird. Ich habe in zwei Stunden ein Heft (10 Pfennige) vollgeschrieben. Also Unterricht im Laufschritt. Was man so alles wissen muss als Militärkraftfahrer könnt Ihr Euch nicht vorstellen. Aber viel Wissen ist nicht schlecht. Nachmittags krabbeln wir dann unter das Auto (man kann drunter sitzen) und bekommen es von unten erklärt.
Ich habe eine Bitte an Euch. Schickt mir bitte, im Interesse meiner Qualifikation eine
– StVO
– StVZO Vati weiß Bescheid
und meinen Antrag für die Fahrerlaubnis. Das ist eine blaue Karte. Sie liegt im mittleren Schubfach meines Schreibtischs. Ich benötige sie zur Legitimation und zur Eintragung der Klasse fünf. Das brauchte ich so schnell wie möglich. Ihr könnt ja noch eine Kleinigkeit hinein legen.
So, zur Beruhigung für Euch, auch wir haben jetzt drei Tage frei. Bis um 07.00 Uhr schlafen. Ich muß raus…
So jetzt bin ich wieder da. Hektik ist kein Ausdruck für das was man mit uns macht. Von 14.00 Uhr an haben wir Generalprobe geübt. Ex (Exerzieren), Stehen, 2 Stunden, „Richt Euch!“ (in einer Linie ausrichten) usw. Laufen, laufen und morgen müssen wir um 05.00 Uhr aufstehen. Nochmal üben. Jetzt Schuhe putzen, zum Abendbrot im Laufschritt, wieder Schuhe putzen, Sachen reinigen, Waffen reinigen, Revier reinigen (Stube saubermachen), schnell waschen, rasieren (Aua!, geschnitten), raus, Tempo, Tempo, Sturmgepäck fertig machen, denn heute Abend soll Alarm sein. Alle haben schlechte Laune und ich stehe lächelnd mittendrin, raus, Stubenkontrolle und nun kommt zu allem Überfluß der Kompaniechef und schnauzt rum. Morgen geht das weiter, Karneval nennt man das. Dienstuniform (Frühstück), vorher Sportsachen danach Paradeuniform, Dienstuniform (Mittag), Ausgangsuniform (für den Besuch), Dienstuniform am Abend, danach zum Revierreinigen Trainingsanzug. Und alles im Laufschritt. Früh 2 Minuten zum Aufstehen und Sportsachen anziehen, draußen angetreten („gepinkelt“ wird nicht!), danach Frühsport, einrücken, waschen, rein in die Sachen, Betten bauen, Sportsachen zusammenlegen in 15 Minuten. Laufschritt zum Essen, weil wir uns verspätet haben. Die EKs (Entlassungskandidaten, 3. Diensthalbjahr) haben ihr Essen zuerst und wer zuletzt dran ist kann gleich auf das Essen verzichten. Natürlich ist man findig und ich hab schon meine Klarheiten. Jetzt brüllt der UvD (Unteroffizier vom Dienst) nach mir, ich soll das Klo noch machen. Na ja, er ist der Meinung, ich arbeite zu wenig. Also Freizeit haben wir nicht. Mal eine halbe Stunde aber sonst geht es von 06.00 Uhr bis 22.00 Uhr rund um die Uhr. Aber komischerweise gibt mir das sogar Spaß. Es ist alles so kurios. Es ist mit nichts vergleichbar. Eben Armee. Du, liebe Mutti, fragtest mich nach meinen Kameraden. Also mit den Neueingezogenen verbindet mich nicht viel. Bißchen dumm. Also Freunde finde ich unter ihnen keine. Ich komme klasse aus. Aber die Dinge für die sie sich interessieren, sprechen mich nicht an. Zwei Verheiratete (nur Frau und Kinder), drei 8. Klassen-Abgänger und zwei sind in der SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands). Keiner spielt Schach oder liest Bücher. Also nicht so sehr mein Fall. Dagegen die älteren Diensthalbjahre, ganz klasse Burschen. Mit ihnen kann man sich Konzerte anhören und Dame spielt man und Volleyball (spielt keiner aus meiner Truppe) und Tischtennis. Ganz passable Burschen. Natürlich lassen sie mich manchmal die Knute spüren. Aber im Großen und Ganzen komme ich am besten mit ihnen aus. Das erzeugt natürlich Neid, vor allem durch meine Sonderarbeiten und durch den Fotozirkel den ich aufbaue. Alles Dienstbefreiung. Und wenn die Truppe dann verschwitzt von „Itackerhügel“ kommt und ich lache über die urkomischen Gestalten sind sie natürlich ungehalten. Die Leute haben eben keinen Humor (ha, ha). Aber ich bin gemein. Jetzt brüllt der schon wieder. Jetzt gilt es.
Küßchen an Euch alle, vor allem für meine liebe Mutter und die Großeltern in Reick für die liebe Karte (sobald ich Zeit habe schreibe ich separat). Auch den Quartier Großeltern von mir herzliche Grüße (Oma, Du wirst ja jetzt Deine Freude am Garten haben) Ich sehne mich ein bißchen nach den schönen Blumen. An meinen Vater und meine Geschwister möchte ich eine fundierte Drohung losschicken, daß sie mir bald schreiben. Sonst bin ich ganz böse auf Euch. Moses hat geschrieben ganz klasse von ihm. Ich habe mich wirklich sehr gefreut. Verdammt Alarm, Tü Tü Tü…, ich muß raus
Tschau
Sebastian

Marienberg, 13.01.1976

Meine liebe Familie!
Langsam möchte ich mal wieder was von mir hören lassen. Für einen Brief kann ich mich ja leider nicht bedanken. Faßt das bitte so auf, daß ich auf Post von Euch warte! Mir geht es gut, was den Körper anbelangt. Ansonsten wird es immer schlimmer. Wir oder ich lassen uns nichts mehr von den EKs sagen, und dadurch entsteht schon unter den Soldaten eine miese Stimmung. Als I-Kompanie sind wir einige Male unangenehm aufgefallen, und so lädt sich das ganze Unwetter der Mißstimmung der Offiziere auf uns ab. Harter Dienst. Es geht sogar soweit, daß wir während des Werkstattdienstes unter Schutz (mit Schutzausrüstung und Gasmaske) arbeiten. Nur damit wir angenehm auffallen. Ich bin sowieso sauer. Mein Urlaub, vom Gruppenführer, Zugführer und Spieß genehmigt, ist irgendwo zwischen Spieß und KC abgelehnt worden. Das ist dermaßen ungerecht und gemein, daß meine Stimmung darunter erheblich leidet. Alle aus meinem Zug sind vor, nach oder Weihnachten oder Silvester in den Urlaub gefahren. Jetzt fahren schon wieder welche, die Weihnachten gefahren sind. Sogar solche Leute, deren Kartei schon Vermerke über BVs o.ä. hat. Ich habe mir noch nichts zuschulden kommen lassen und fahre trotzdem nicht. Irgendwelche Leute müssen sehr nachtragend sein. Ich kann da überhaupt nichts machen. Es wird Zeit, daß ich entlassen werde. Aber ich will nicht nur Unerfreuliches schreiben. Ab Montag nächster Woche fahre ich zum Lehrgang nach Großenhain. Wenn ich es schaffe, schon am Sonntag früh rauszukommen, könnt Ihr mich begrüßen. Macht Euch nicht zu viel Hoffnung, aber der Fähnrich und der Spieß sind einverstanden. Alles liegt nun beim KC, meinem speziellen Freund. So etwas soll Kompaniechef sein, dumm, gemein und hinterhältig. 27 Jahre und schon dermaßen alt. Er hat vor uns gesagt, sein Hobby sind die Soldaten, und seine Frau läßt er das Essen nach Normzeit auftragen. Was er noch nach Normzeit macht, möchte ich nicht wissen. Es ist ungelogen, wer länger bei der Firma ist, bekommt einen leichten Schaden. Das ist hier eine eigene Welt, wo keinerlei zivile Normen mehr gelten. Ich selber habe vielleicht noch mehr den Schaden als andere, da ich vieles schlimmer empfinde als andere. Die meisten bringen ihre Zeit mit Saufen usw. durch und umgeben sich mit einer Mauer, an die sie keinen heranlassen. Ich kann das nicht, und ich kann auch meine verdammte Gusche (Entschuldigung) nicht halten. FDJ-Wahlversammlung, eine Singegruppe aus der Paten-EOS (Erweiterte Oberschule = Gymnasium in der DDR) singt. Alles ist im feierlichen Rahmen. Niemand applaudiert. Na, ich bin da nicht so, bei den netten Mädchen, und mache den Anfang. Das hätte schon ein KU (Kurzurlaub) sein können. Bei der anschließenden Diskussion großes Schweigen. Wieder stehe ich auf und lasse ein paar nette Sachen los. Wieder Schweigen; und der Regimentskommandeur war anwesend. Peinliche Sache. Da hat mich der Hafer gestochen, und ich habe auf den Tisch gepackt. Habe eine richtige Rede gehalten, mich und den KC und die Soldaten und die Leitung kritisiert, an „heiligen“ und „verbürgten“ Sachen gerüttelt. Auf einmal kam Bewegung in die Massen, ich habe Zunder von allen Seiten bekommen. Die Soldaten empörten sich, der KC gab mir zurück, was ich ihm an den Kopf geworfen habe, und die Leitung meckerte dazwischen. Bum, auf einmal war ich der Buhmann. So ist das, und obwohl ich mir gesagt habe, Du sagst nie wieder etwas, ich kann den Mund dann doch nicht halten, wenn sie zu dämlich reden. Das geistige Niveau ist gegenüber meinem Zivilleben dermaßen niedrig, daß es mich erschreckt. Mein Gott, selbst Dieter als Baufacharbeiter hat mehr Geist und Witz als unser studierter (in Kiew) Stuben-EK. Ich komme nicht darüber hinweg, wie Leute studieren (dazu gehören ja auch Offiziere) und geistig und moralisch so tief stehen können. So etwas kann ich nur Euch schreiben, wenn ich diese Meinung hier vertreten würde, wäre ich total durch. Ich gelte sowieso schon als ein bißchen verrückt. Weil ich eben Meinungen habe, die hier keiner versteht oder verstehen will und weil ich Bücher über altrussische Literatur lese. Manchmal denke ich, haben die vielleicht Recht? Aber ich brauche bloß einen Bunker (Berufssoldat) anzuschauen, und ich weiß, ich bin sehr normal. Ihr müßt mal schreiben, was Ihr darüber denkt. Aber keine Mitleidsschreiben bitte.
Eins ist gewiß, ich mache eine Schule durch, die mir das Leben nie gegeben hätte. Ich hatte ja nie viel Selbstvertrauen, und dadurch konnte ich mich schlecht durchsetzen, liebevoll als Toleranz umschrieben. Aber hier würde ein Typ wie ich in die Klapsmühle kommen, wenn er sich nicht durchsetzen könnte. Zur Not mit den Fäusten. Ja, so hart sind hier die Sitten. Vielleicht macht Ihr Euch jetzt Sorgen, aber die sind völlig unbegründet. Ich komme hier schon um die Runden, aber schön ist es weiß Gott nicht.
Nun aber wirklich Schluß mit der Litanei. Ich ringe mit dem Brief um einen Tischtennisschläger von Euch. Denkt mal mit dran, denn Tischtennis ist ja soo gesund. Neuerdings spielen wir sogar Biliard (richtig geschrieben?). Und heute haben sie quer über den Gang eine Reckstange angebracht. Für Klimmzüge ist also gesorgt. Sport ist hier auch das einzige wo ich „schlitze“ und was mir Spaß macht (außer Frühsport!). Sport wird auch stark gefördert und dadurch kann ich mir manche Freizeit erhalten, wo andere geistlose Vorträge anhören müssen. Außerdem verschwinden manche Zustände, wenn wir EKs sind. Die EK-Bewegung wird ja direkt gefördert von der Leitung, und dadurch werde ich mal endlich in den Genuß kommen, mein eigener „Herr“ zu sein.
So, jetzt geht’s wieder los mit Flur wischen usw. Ich habe wieder mal einen Befehl verweigert und werde jetzt „büßen“. Wenn ich zurückkomme, wirst Du, liebe Mutti wohl kaum noch meine Stube wischen. Ich werde direkt Spaß empfinden dabei und alten Erinnerungen nachhängen.
Macht’s gut, Euer Sohn und Bruder, der Euch alle liebt

Sebastian