menschliches nur Menschliches – erste Leseprobe
Der alte Mann und das Wehr
Er wollte es noch einmal wissen, wollte sich spüren, das Leben intensiv erleben. Schon oft war er mit dem Paddelboot auf dem Wasser unterwegs gewesen, auf der Elbe, in Mecklenburg, auf den Masurischen Seen, auf Flüssen, Kanälen, verschiedenen Gewässern, sogar auf dem Meer. Nie hatte es Probleme gegeben. Immer war er Herr des Geschehens gewesen. Er hatte die Elemente bezwungen.
Hier stand er nun, noch keuchend mit zitternden Knien im reißenden Wasser der Moldau. Sein Kanu trieb kopfüber davon, und freundliche Helfer retteten das Boot und seine Sachen, wie sie ihm zuvor geholfen hatten. Er hatte es kaum geschafft, sich selbst zu retten. Er konnte nicht sagen, ob er es ohne Hilfe überhaupt geschafft hätte. Dabei hatte er so Vieles im Leben allein geschafft. Darauf war er immer stolz gewesen. Niemand hatte ihm etwas geschenkt. Alles war harte Arbeit gewesen, und er hatte es trotz aller Hindernisse geschafft. Jetzt war sein Kanu gekentert. Die Elemente hatten ihn bezwungen. Der Strom des Lebens hatte ihn scheitern lassen. Was war aus dem einst so stolzen Schlachtschiff geworden, das mutig jedem Sturm trotzte? Ein kleiner Nachen, der hilflos auf den Wellen des Schicksals trieb. Doch er stand, und alle seine Sachen waren gerettet worden.
Der alte Mann stand am Wehr.
Unsicher stand er im aufgewühlten Wasser des Flusses und sah aufgewühlt die Bilder seines Lebens an sich vorüberströmen wie in einem surrealen Traum.
Direkt nach dem Beginn der zweiten großen Teufelei, die von Deutschland ausging, und die später der 2. Weltkrieg genannt wurde, erblickte er das Licht der Welt. Staunend stand der kleine Knabe am Fenster und sah wunderschöne, leuchtende Tannenbäume am Himmel. So schön und so bedrohlich. Denn begleitet vom Heulen der Sirenen, gefolgt vom dumpfen Dröhnen der Bomberverbände, durchdrungen von der Angst und der Panik der Eltern sah er sich zitternd im Luftschutzkeller sitzen. Von klein auf damit konfrontiert, fragte er sich immer wieder, warum es dazu kommen konnte und wie es noch heute zu Kriegen kommen kann. Seit von einer menschlichen Gesellschaft die Rede ist, passierte immer wieder dasselbe: Einzelne zettelten aus egoistischen Motiven einen Krieg an, den sehr viele führen mußten und führten. Es bedeutete immer Not, Leid, Hunger, Elend und Tod für die Vielen und Gewinn für einige Wenige. Warum ließen sich die Menschen immer wieder, wie Schafe zur Schlachtbank, auf diesen brutalsten aller Irrwege führen? Was erhofften sie sich davon? Dachten sie ernsthaft, hofften sie, daß sie zu den Wenigen gehörten, die vom Krieg profitierten? Glaubten sie an eine göttliche Weisung, oder folgten sie gedankenlos dem irrlichternden Geschwafel ihrer Führer? Das alles seit Jahrtausenden, wieder und wieder und wieder. Werden die Menschen je begreifen? Warum schafft man nicht einfach alle Waffen ab? Wenn man sich mit Tomaten bewirft, ist das deutlich weniger schmerzhaft und vor allem nicht tödlich. Der Landwirtschaft könnte es auch helfen, nur nicht der Waffenlobby und der Rüstungsindustrie.
Er verstand es nicht. Er verstand die Welt nicht. Er verstand sich selbst nicht. Er stand kraftlos im Wasser, das wie der Strom der Ereignisse achtlos an ihm vorüberfloß. Er fühlte sich matt und zerschlagen, glaubte, die Geschehnisse wie von außen zu betrachten. Doch noch stand er im Strom, aufrecht. Er konnte die Elemente fühlen, wie sie ihn noch immer herausforderten. Er stand im Wasser unterhalb des Wehrs. Oberhalb desselben hatte sich der Fluß etwas angestaut. Bis hierhin hatte es ihn ruhig und friedlich mit leichtem Gefälle sanft getragen. Am Wehr wandelte sich das Bild unverhofft. Brüllend stürzten sich die Fluten in die Tiefe. Plötzlich beschleunigte sich der träge Fluß des Wassers, brachte es in Wallung und stürzte sich reißend in den Abgrund, hin zu tieferen Gefilden, hin zu neuen Ufern, hin zu einem Neubeginn. Er war auf diesem Weg gescheitert. Starr stand er am Wehr, sah, daß auch sein Sohn kenterte, sah, daß auch seine Enkelin in den Fluten versank. Sie tauchten indessen gleich wieder auf, schüttelten sich und lachten. Dann sammelten sie ihre Sachen ein, drehten das Boot und zogen es ans Ufer.
Der alte Mann stand am Wehr und dachte nach.