menschliches nur MENSCHLICHES – dritte Leseprobe
Familienglück
Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie dagegen ist unglücklich auf ihre besondere Art.
(Der berühmte erste Satz aus »Anna Karenina«)
Ich möchte nicht einmal am Sockel des Literaturdenkmals Lew Nikolajewitsch Tolstoi rütteln, achte und verehre ich ihn doch viel zu sehr. Trotzdem sei mir der Einwand gestattet, daß eine Familie nie nur glücklich oder unglücklich zu nennen ist. Jede unglückliche Familie hat auch ihre glücklichen Momente, wie jede glückliche Familie ihre unglücklichen hat. So wie jeder Mensch anders lacht und das Weinen der Menschen nie gleich ist. Das Glück ist ein so komplexer, flüchtiger, kaum faßbarer, noch weniger beschreibbarer Zustand im Leben. Jeder Mensch empfindet es anders und nie ist es von Dauer.
Es ist ein Glück, nicht allein zu sein auf Erden. Es ist ein Glück, Freud und Leid teilen zu können, eine liebende Seele neben sich zu wissen, der man grenzenlos vertrauen kann. Es ist ein Glück, lieben zu können. Es ist ein Glück, in einem geschützten Raum aufzuwachsen. Wenn dieser Raum groß genug ist, um frei atmen zu können. Wenn dieser Raum abgrenzt, aber nicht einsperrt. Wenn der Raum Größe und Weite und Licht hat und freie Ausblicke in alle Richtungen eröffnet. Wenn dieser Raum warm und voller Liebe ist, wie ein weiches Lager, auf das man seine müden Glieder jederzeit betten kann. Ein solches Glück, ein solcher Raum kann die Familie sein.
Doch nur wenigen Menschen ist dieser Idealfall beschieden. So wie die Menschen selten groß und erhaben sind, selten rein und voller Liebe, so sind auch die Familien oft vor der Welt verborgene Orte der Angst, der Schrecken, der Demütigungen, der Schmerzen oder gar des Todes. Die Kinder in diesen Familien nehmen, wie alle anderen Kinder auch, ihre Umgebung als normal und natürlich wahr, erkennen nicht die Quelle ihrer Ängste und Sorgen, halten Abhängigkeit für Liebe, Selbstverständlichkeiten für Zuwendung und Verletzungen für gerechte Strafen. Ihre kleinen Seelen verkümmern, werden wund und suchen verzweifelt, wie Ertrinkende im See ihrer unbemerkten Schmerzen, nach Liebe, oft ein Leben lang. Die einzige Chance zu überleben, ist das Einmauern dieser Ängste, dieser Schrecken und Verletzungen in ein tiefes Verlies, einen dunklen Keller ihrer selbst, in die hinterste Ecke ihres Bewußtseins, in die sie nie wieder blicken wollen. Es ist die unbewußte Erschaffung eines versteckten, eines unschuldigen zarten kleinen Ichs neben dem unerträglichen, real erlebenden Ich. So sind sie gefangen in einer Gemeinschaft, als deren unlöslicher Teil sie sich fühlen, die sie schützen und für deren Unzulänglichkeiten sie sich schuldig fühlen.