Schizophrene Geschichten: Leseprobe 1

 
h.f. von anhalt
 
Erwachen
oder
Eine etwas andere Gutenachtgeschichte

 
So wohl, ich fühle mich so wohl, so unendlich wohl…
 
Wieder erwacht ein neuer, wunderschöner Tag zum glücklichen Leben. Die wohligen Strahlen der milden Sonne lächeln mir freundlich ins Gesicht und wollen mir wohlwollend sagen, daß es Zeit wird, diesen Morgen zu begrüßen. Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee steigt mir verheißungsvoll in die Nase. Ich bin ausgeschlafen und erhebe meinen jugendlich straffen Körper leichtfüßig aus den Federn, um leichten Schrittes ins Bad zu schlendern und gleich darauf den angenehmen Strahl regenwarmen, weichen Wassers auf der nackten Haut prickeln zu fühlen. Die Morgentoilette, das Frühstück, der zeitliche Ablauf, alles stimmt, alles ist genau so, wie es sein muß. Und so ist es jeden schönen Tag dieses herrlichen Lebens. Immer scheint die Sonne strahlend und doch mild, es weht eine leichte, frische Brise, die zuweilen auch etwas auffrischt, die Tage sind angenehm warm, ohne heiß zu sein, die Nächte sind angenehm warm, später kühler werdend, ohne kalt zu sein, kurz alles ist perfekt. Ich wüßte nicht, was anders sein sollte. Die Seele baumelt in einer wunderbaren Hängematte mitten im Paradiese. So wohl ist mir, so wohl ist mir jeden Tag, außer heute.

Irgendwie ist heute irgendetwas anders als sonst. Ich kann nicht sagen, was es ist, es ist nur ein unbestimmtes Gefühl tief in mir. Obwohl auch heute alles perfekt zu sein scheint, signalisiert mir mein Unterbewußtsein: Gefahr! Nicht alarmierend, nur eine ganz leise, kaum wahrnehmbare Ahnung. Vielleicht habe ich auch öfter eine solche Ahnung und bin mir dessen nur nicht bewußt. Aber heute spüre ich es deutlich, da stimmt etwas nicht. Das Wetter ist herrlich, der Kaffee exquisit, die Brötchen außen knusprig, innen weich, wie sie sein sollen. Auch das Ei ist optimal, das Eiweiß fest, das Eigelb flüssig, es gibt wirklich nichts auszusetzen. Alles sieht aus wie immer, die mit ausgesuchten Designermöbeln ausgestattete großzügige Wohnung, die wertvollen Originalbilder an den Wänden, moderne Kunst versteht sich, Picasso, Klee, Kandinsky, Dalí, Warhol, Richter und andere, das Parkett spiegelt, weiche Teppiche schmeicheln den noch nackten Füßen, große Grünpflanzen überall, und mehrere frische, bunte Blumensträuße, wie ich sie mag, bieten den Augen Entspannung. Aus den zahlreichen, versteckten Megaboxen tönt in der exakt richtigen Lautstärke meine Lieblingsmusik im Super-Surround-Sound 4D. Ich kann den herrlichen Blick aus den breiten, raumhohen Fensteröffnungen über den Strand, die ganze Bucht, weiter über den Hafen, die Felsen im Hintergrund und die Stadt genießen. Ich trete auf die weiträumige Terrasse vor den Fenstern, die warme Sonne auf der Haut spürend, schließe ich die Augen, der Wind fächelt mir eine frische Brise entgegen, ich höre das Rauschen des Meeres, das Schreien der Möwen, einfach wunderschön, vielleicht zu schön, um wahr zu sein.
Unsinn, was soll schon sein, versuche ich die Ahnung zu verscheuchen. Der Kaffee duftet noch immer, ich frühstücke zu Ende und rufe den Serviceterminal, um die Kleidung für heute zu ordern, Edeldesign, wie immer, ein angenehmer Gong ertönt, die Serviceklappe öffnet sich geräuschlos, und das Gewünschte gleitet sanft auf die Ablagevorrichtung. Danach noch einmal ins Bad zum Zahnputzautomaten. Ich ziehe ihn aus der Wand, und schiebe mir die weiche Kugel in den Mund, den gleich darauf ein angenehmes Prickeln ausfüllt, leicht vibrierend verrichtet die Zauberkugel ihr Werk, reinigt, desinfiziert, massiert Zähne, Zwischenräume, Zahnfleisch und Zunge, ein wunderbar frisches, wohlriechendes Gefühl hinterlassend.
Dann geschieht es plötzlich. Die Kugel ist fast fertig, als mit einem jähen Schlag Funken aus der Zuleitung schlagen, das Vibrieren hört schlagartig auf, um sich in ein unangenehmes, jedoch nicht allzu starkes Kribbeln auf der Zunge zu verwandeln. Aber es hat sich noch mehr verändert. Zunächst fühle ich nur ein leichtes, allgemeines Unwohlsein, das ich erst nach und nach in verschiedene Einzelheiten zu unterscheiden vermag. Neben dem widerlichen Gefühl, einen Tischtennisball im Mund zu haben, der einen unter Strom setzt, drückt mich ein schweres Völlegefühl im Magen, der ganze Kopf schmerzt, und von den Füßen her zieht eine eisige Kälte langsam durch den Körper. Doch was sind all diese unangenehmen Gefühle im Vergleich dazu, was sich mir jetzt im Spiegel offenbart?!

Erst nach einigen Sekunden wird mir bewußt, daß dieses häßliche, picklige, unrasierte Gesicht mit dem schütteren, fettigen Haarkranz, welches mich glotzäugig anstarrt, wohl in irgendeiner Form mit mir zu tun haben muß. Angewidert nehme ich das rostige Kugelmonster aus dem Mund, dabei die gelblichen Zahnruinen gewahrend und lasse entsetzt dieses an mehrfach provisorisch geflickten, losen Drähten hängende Etwas fallen, um nun im schmierigen, völlig verdreckten Spiegel den Rest des ausgemergelten Körpers mit dünnen, schwachen Armen an schmalen Schultern, einem leichten Schmerbauch, breiten, schwammigen Hüften mit Fettringansatz, die in krumme, haarige Beine übergehen und einem lächerlich baumelnden, jämmerlichen, winzigen Geschlecht verschwommen zu erkennen. Das kann doch nicht ich sein! Jeden Morgen sehe ich meinen muskulösen, männlichen Traumkörper mit breiten Schultern, gewaltigen Armmuskeln, schmalen Hüften unter einem Waschbrettbauch, sehnige, kräftige Oberschenkel, stramme Waden und ein gewaltiges, beeindruckendes Gemächt. Wie ist das möglich? Träume ich vielleicht noch? Doch die Eiseskälte, die mich von den kalten, vielfach zerbrochenen, schmutzstarrenden Fliesen her über meine nackten, ebenso schmutzigen Füße durchzieht, gibt dieser Hoffnung wenig Raum. Erst jetzt sehe ich dieses merkwürdige Ding auf meinem Hinterkopf. Es wirkt wie ein kaktusartiger Auswuchs mit einem langen Stachel, den ich nicht zu berühren wage und von dem der Kopfschmerz auszugehen scheint. Schon durch Fliesen und Spiegel verunsichert, wage ich erst jetzt aufzublicken und bin starr vor Schreck. Mit offenem Munde brauche ich lange Minuten, um das, was sich meinen Augen darbietet, auch nur ansatzweise zu verdauen, von verarbeiten will ich nicht reden. Was ich sehe, läßt mich an den Grundfesten meiner Existenz zweifeln, mein Gehirn gleicht einer leeren Wüste, durch die ein zugleich heißer und eisiger Sturm tobt, die Beine drohen mir einzuknicken, Übelkeit macht sich breit, ich übergebe mich, mein ganzes bisheriges ICH entleert sich in einem säuerlich stinkenden Schwall üblen Auswurfs, der zähflüssig bröckelnd in einem rostigen Fußbodeneinlauf versickert.
Ganz langsam und vorsichtig blicke ich wieder auf, doch das Bild hat sich nicht verändert. Ich befinde mich auf einer weiten, nackten Fläche, die alle paar Meter von einer Betonsäule unterbrochen wird, über mir eine ebenso große Deckenfläche, deren Ende ich nicht zu erkennen vermag. Abgesehen von der Wand mit dem Spiegel nehme ich nichts um mich herum wahr. Ich stehe nur etwa zwei Meter vom Rand dieser riesigen Fläche entfernt. Dann ist Schluß, kein Geländer, nur ein Abgrund, dessen Tiefe ich nicht zu ermessen wage. Eine wüste Einöde erstreckt sich vor dem Gebäude soweit das Auge blickt, leicht welliges Terrain, Müllhaufen, Schrott, alles von wildem Gesträuch überwachsen. Der Himmel dunkel und drohend mit schwefelgelben, bizarren Wolkengebilden, die ein arktischer Sturmwind übers Firmament peitscht. Die apokalyptischen Reiter müssen gerade erst vorüber geritten sein, eine Atomlandschaft nach der finalen Explosion. Nicht weit entfernt erstrecken sich gewaltigen Parkdecks ähnliche, nüchterne, nackte Betonklötze bis in den fahlen Himmel. Wahrscheinlich stehe auch ich in einem ebensolchen Gebäude. Ich blicke weiter um mich, links und rechts von mir das gleiche Bild. Ein Geräusch läßt mich aufschrecken, ich wende mich um. Nur wenige Meter entfernt steht ein Mensch! Genauso erbärmlich wie ich aussehend, lehnt er sich genüßlich in einen wackligen, alten Stuhl und tut als würde er eine Zigarre rauchen. Noch weiter entfernt steht eine alte, runzlige Frau mit Glatze und einem hier ebenfalls sichtbaren Kaktusauswuchs. Sie macht Bewegungen, als wenn sie langes, wallendes Haar kämmen würde. Rechts von mir rekelt sich jemand wohlig auf den nackten Fliesen, und hinter mir sehe ich eine ekelhaft fette Frau mit riesigen, hängenden Brüsten, die auf einem uralten Hocker kauert und scheinbar Leckereien von einem imaginären Tisch nehmend mit sichtlichem Wohlbehagen verzehrt. Je weiter ich schauhe, desto mehr offensichtlich Verrückte nehme ich wahr. Ein dumpfes Gefühl bemächtigt sich meiner. Bin ich etwa auch verrückt? Sind dies hier gigantische Irrenhäuser? Aber in dieser beträchtlichen Höhe, ohne Geländer, wieso stürzt da keiner ab? Jetzt wird meine Aufmerksamkeit von einem Licht in der Ferne beansprucht.
Dort sitzt ein bekleideter, ungepflegter Mann zwischen zwei Wänden an einem Tisch, auf dem ich eine Thermoskanne und ein Frühstückspaket ausmache, und ist in seine Zeitungslektüre vertieft. An einer der Wände sehe ich große, merkwürdige Apparaturen, Schaltkästen, Meßinstrumente und dergleichen. Viele verschiedenfarbige Lämpchen leuchten und eine davon blinkt aufdringlich in signalroter Farbe…