Schizophrene Geschichten: Leseprobe 2

h.f. von anhalt

Der kleine Husten

oder

Das Weichei

 

„Brrrh!… Puuh!…, so ein Mistwetter! …Ha… Ha… Haahtzschi!!!“

Oh, welch ein Elend, jetzt hatte es ihn wohl erwischt. Kein Wunder bei diesem Wetter. Mißmutig zog er sich fröstelnd noch weiter in seinen langen, weiten, modisch geschnittenen Wollmantel zurück, dabei den Kragen hochschlagend, den weichen Kaschmirschal enger um seinen Hals windend und seinen teuren Borsalino à la Humphrey Bogart noch tiefer in die Stirn drückend. Manchmal ist es doch gut, wenn die edlen Zutaten nicht nur teuer sind, sondern ob ihrer Qualität auch noch einen guten Zweck erfüllen. Dies konnte man indessen von seinen italienischen Halbschuhen nicht behaupten, die zwar ausgesprochen gut aussahen und das Business-Outfit de luxe optimal vervollständigten, aber trotz des exorbitanten Preises dem Wetter oder besser Unwetter an diesem Novembertag sehr wenig oder fast nichts entgegenzusetzen vermochten. Der Tribut an den Erfolg eben, dachte er mit einem wohlgefälligen Grinsen auf dem blassen, glattrasierten Gesicht. Schmale Lippen und ein energisches Kinn wiesen auf den Erfolgsmenschen hin, wozu die verfrorene, rote, leicht geschwollene Nase mit dem feuchten Schimmer jedoch nicht so recht passen wollte, auch wenn sie von einer schwindelerregend kostenintensiven Designer-Brille gekrönt wurde, deren hoch modischer, einen weiten Bogen beschreibender oberer schwarzer Querriegel eher den Eindruck des berühmten Brettes vor dem Kopf hinterließ.

Dessenungeachtet bewegte er sich nunmehr zügig quer über den großen Platz, um, solcherart die Diagonale als kürzesten Weg nutzend, von einer Ecke des Marktes zur anderen zu gelangen, denn dort erwartete ihn ein angenehmeres Ambiente in einem kleinen Café an der Ecke, in dem hoffentlich ein geliebtes Wesen seiner harrend sitzen würde. Der eisige Wind peitschte ihm in eiskalten Böen den Schneegriesel ins Gesicht. Die Brille wurde naß, er sah nur noch verschwommen, aber die Hände tief in den flauschig gefütterten Manteltaschen vergraben, hatte er sein Ziel fest im Visier und steuerte unbeirrbar darauf zu.

„Ahh!…, herrlich!…, oh welche Labsal!“ Ein wunderbarer Tag heute, so richtig nach seinem Geschmack, so daß er sich rundum wohl fühlte. Jetzt fehlte nur noch die große Liebe zu seinem Glück, und an so einem schönen Tag mit so himmlischem Wetter konnte alles passieren. Und wie durch ein Wunder sah er es tatsächlich, dieses traumhafte Wesen, welches ihm unvermittelt entgegenstürmte. Der Traum seiner schlaflosen Nächte wurde wahr. Ein Glückstag wie noch nie in seinem noch kurzen Leben. Das war Liebe auf den ersten Blick! Er konnte sein Glück kaum fassen, und es kam immer näher, war jetzt schon fast bei ihm.

„Hi, hi, hi, hi!“, kicherte der winzig kleine Kerl leise in sich hinein, dabei noch immer wohlig-verträumt auf das Ziel seiner Wünsche blickend. Er konnte an nichts anderes mehr denken, war völlig fixiert, ohne daß jedoch dadurch seine Reaktionsfähigkeit eingeschränkt worden wäre. An dieser Stelle kamen ihm wie immer die Verse eines dieser Wunderwesen namens Mensch in den Sinn, Morgenstern hieß er wohl:

Ein Schnupfen hockt auf der Terrasse,

auf daß er sich ein Opfer fasse

– und stürzt alsbald mit großem Grimm

auf einen Menschen namens Schrimm.

Paul Schrimm erwidert prompt: „Pitschü!“

und hat ihn drauf bis Montag früh.

Nun war er zwar kein Schnupfen, aber ein enger Verwandter, und was der konnte, konnte er schon lange! Also löste er sich blitzschnell aus seiner zugigen Ecke, in der er listig gelauert hatte und stürzte sich auf sein Opfer, das keinerlei Gegenwehr leistete, und schon war er mitten im Glück, unser kleiner Husten. Wie lange hatte er schon einsam und allein in seiner Ecke gesessen, der süße kleine Krächzer, ohne Nahrung für Körper und Seele? Vor lauter Einsamkeit und Trauer war er schon ganz verkümmert und hatte bis zu diesem Gottestag nur noch traurig vor sich hin gestarrt. Aber heute hatte er seine Liebe gefunden, konnte all die Enttäuschungen der Vergangenheit vergessen und mit jeder Faser seines pulsierenden Lebens neue Energie entwickeln, um damit seinen schönen Wirt in allerliebste Schwingungen zu versetzen.

Er hatte sein Ziel schon dicht vor seinen verschwommenen Augengläsern, stürmte, sich mit letzter Anstrengung gegen den heimtückischen Wind stemmend, auf die Ecke zu, erreichte sie und wollte sich eben auf die rettende Türklinke des Eckcafés stürzen, als er plötzlich ein kratziges Gefühl im Hals bekam und laut husten mußte. Nicht weiter schlimm, dachte er, erstmal hinein in die warme Stube und einen schönen heißen Glühwein getrunken, dann wird es mir wieder warm, und ich schlage dem Husten ein Schnippchen.

Gesagt, getan, saß er schon wenige Augenblicke später in einer warmen Ecke des kleinen, gemütlichen Cafés vor einem dampfenden Glühweinglas, blickte seiner Angebeteten in die wunderbar blauen Augen, während diese ihm seine kalten Hände mit den ihren auf die angenehmste Weise wärmte. Langsam durchströmte ihn die Wärme bis in die eiskalten Fußspitzen, er lehnte sich versonnen in die weichen Polster zurück und genoß den wonnigen Augenblick. Da konnte draußen der Sturm noch so toben, die Schneeflocken ihren rasenden Tanz aufführen, die Kälte sich an anderen auslassen. Er saß geschützt, sicher und vor allem warm hier neben seiner Freundin, die ihn noch immer liebevoll zu wärmen suchte, indem sie eine ihrer kleinen, heizkissenwarmen Hände unter die seine legte und ihm mit der anderen sacht über seinen gepflegten Handrücken strich. Einfach herrlich, wenn sich da nicht wieder dieses leise Kratzen im Hals bemerkbar gemacht hätte. Aber er dachte an nichts Böses, und nachdem sie lange über verschiedene Dinge gesprochen hatten, ihre Arbeit, ihre Pläne für den Sommer und, noch vorsichtig, über die weitere Zukunft, hatte er seine kleine Verstimmung fast vergessen, fast, denn kurz bevor sie gehen wollten, er hatte die alles entscheidende Frage schon beinahe auf den Lippen gehabt, wollte den lange geübten Antrag gekonnt formulieren, da überkam es ihn wieder. Ein schrecklicher Hustenanfall ließ ihn nicht mehr zu Wort kommen.

Währenddessen hatte unser kleiner Freund alle Hände voll zu tun, um sich wohnlich in seinem neuen Heim einzurichten. So blieb ihm auch keine Zeit mehr, sich den trübseligen Gedanken an seinen vormaligen Wirt hinzugeben. Dieser ist schon eine große Enttäuschung für ihn gewesen, denn trotz aller Bemühungen seinerseits kam es nie zu einer wirklichen Annäherung zwischen ihnen. Der Typ lebte einfach falsch, da konnte man sich als Husten nicht wohlfühlen.

Aber dies war, wie bereits bemerkt, nicht mehr Gegenstand seiner Überlegungen. Jetzt galt es, seine ganze Aufmerksamkeit der Einrichtung seiner Wohnung und der Organisation seiner außerordentlich wichtigen Tätigkeit zu widmen. Zunächst suchte er sich ein hübsches Plätzchen tief in den Bronchien, wo er sicher, warm und ungestört wirken konnte. Bald darauf sah man ihn schon emsig hin und her wuseln, Sekrete sammeln, Zilien wedeln, Schleimhäute reizen. So löste er wahre Stürme aus, die mit annähernder Schallgeschwindigkeit durch die Bronchien und die Luftröhre jagten und das arme Opfer unter gewaltigen Streß setzen. Dabei wollte der kleine Husten doch nur das Beste. Mit seinem aufopferungsvollen Tun wollte er doch nur helfen, böse Schleim- und Schmutzpartikel zu entfernen und in Richtung Mund zu schleudern, auch wenn er dabei manchmal über das Ziel hinausschoß.

Dieses Mal hatte er mehr Glück mit der Wahl seines Aufenthaltes. Sein Wirt lebte nicht so widerlich gesund wie dessen Vorgänger, trieb keinen Sport, bewegte sich wenig, höchstens im Auto und ernährte sich auch wesentlich gesünder, viel Kaffee, das hielt den Husten fit, viel Alkohol, was seine Durchschlagskraft merklich förderte und dieser herrliche Rauch, der ihm ein willkommener Helfer und sein bester Freund wurde. Gemeinsam schafften sie es, immer neue Attacken zu reiten, immer wilder, immer schneller, immer wirkungsvoller zu werden in ihren eifrigen Bemühungen, die Luftröhre zum Glühen zu bringen.

Trotz aller von diesem und jenem gepriesenen Mittel wurde es immer schlimmer. Der Husten wollte und wollte nicht nachlassen, auch der Arzt schien mit seinem Latein am Ende. Aber wer wird sich denn von so einem blöden Husten unterkriegen lassen? Heute Abend, was heißt heute Abend, in einer Stunde kam Nadine zu ihm, und heute wollte er endlich die Frage aller Fragen stellen. Er hatte alles arrangiert, was zu einem gelungenem Tête à Tête gehörte, ein tolles Essen vom Catering-Service Meyer & Co. KG, Blumenarrangements von der Blumen-Boutique Schulze, mindestens acht Stunden musikalische Untermalung auf iPod mit gedämpften Edelschnulzen bei candle light und knisterndem Kaminfeuer, den Ring, den überarbeiteten Text, den er noch vor kurzem ein letztes Mal repetiert hatte.

Er hing noch ein wenig seinen Träumen nach, als auch schon der Mehrklanggong ertönte und seine leise Rufmelodie durch die Wohnhalle klingen ließ. „Das muß sie sein!“ schoß es ihm durch den Kopf. Schnell noch die Seidenkrawatte gerichtet, die modische Gelfrisur zurechtgezupft und schwungvoll öffnete er die Tür, um die Geliebte in die Arme zu schließen. Doch weit gefehlt, denn vor ihm stand nicht sie, sondern er, der selbsternannte Hausmeister, der ihm zum hundertsten Male erklärte, daß Papier nicht in die gelbe Tonne gehöre, und er doch bitte die Plastiktüte nicht mit den Abfällen in die Biomülltonne werfen solle, es sei denn, sie wäre biologisch abbaubar. Fast hätte er sich wütend auf den alten Trottel gestürzt, machte schon eine Bewegung auf ihn zu, als er Schritte auf der Treppe hörte und gleich darauf einen hübschen wasserstoffblonden Kopf auftauchen sah, den er nur zu gut kannte.

Da passierte auch schon das erste Unglück…