Schizophrene Geschichten: Leseprobe 3

 
h.f. von anhalt

Blaue Augen
oder
Nirvana
 

Ein seltsames blaues Licht durchbrach die absolute Finsternis. Das Glühen dieses Lichtscheins wirkte gebündelt und doch nicht scharf umrissen. Die Begegnung mit diesem Leuchten war unheimlich und machte Angst, als wollte Gott mit einer Taschenlampe in dein Herz leuchten, um die Tiefe deiner Seele auszuloten. Die Menschen fürchteten sich vor diesem Licht, obwohl es von Menschen kam, von besonderen Menschen. Eigentlich waren es keine besonderen Menschen. Bei Tage waren sie nicht von anderen Menschen zu unterscheiden, abgesehen von der tiefblauen Farbe ihrer Augen. Wer ihnen in die Augen sah, versank darin. Er sah einen wunderschönen blauen See, glasklar und abgrundtief, der einen so in seinen Bann zog, daß man darin zu ertrinken glaubte. Es war, als könnte man diesen Menschen in die Seele sehen. Doch das Wasser spiegelte nur die eigene Seele wider, und davor hatten die Menschen Angst. Deshalb wurden die Blauäugigen ausgegrenzt, verbannt aus der menschlichen Gemeinschaft. Sie mußten weit auf dem Meer auf einer unbewohnten Insel leben, die sie nicht verlassen durften. Sie mußten sich selbst versorgen und durften keinen Kontakt zu anderen Menschen aufnehmen. Doch diese Ausgestoßenen hatten noch andere Feinde, von denen die Menschen nichts wußten, die sie nicht einmal ahnten und die sie auch nicht sähen. Nur das Leuchten der blauen Augen in der Nacht zog diese gefährlichen Feinde an.

Es war ein Tag wie jeder andere. Er ging seinen gewohnten Weg zur Arbeitsstelle, welche nicht allzuweit entfernt von seiner Wohnung lag, einem kleinen Apartment in einem kleinen Haus am Rande des Zentrums in einer erstaunlich ruhigen und grünen Umgebung. Der Weg führte entlang des Flußes, dann bog er ein in Richtung Innenstadt. Es wurde immer belebter, Verkehr und Lärm nahmen zu, die Menschenmassen drängten zur Arbeit wie jeden Morgen. Fast angekommen, steht er an einer roten Ampel, blinzelt versonnen in den etwas trüben Himmel, den eben der erste Sonnenstrahl aufheitert, sieht dann wieder zur Ampel, und da begegnet er einem Blick, einem so intensiven Blick, daß ihm die Beine nachzugeben drohen. Die Frau ihm gegenüber senkt sofort die Augen, doch es ist zu spät. Wie in Trance bemerkt er das Schieben der Leute hinter sich, nachdem die Ampel auf grün springt. Er läßt sich willenlos treiben und steuert, ohne es tatsächlich zu bemerken, direkt auf sie zu. Sie stoßen beinahe zusammen. Da hebt sie für einen Moment wieder die Augen und sieht ihn an. Er sieht nicht die wunderschöne Frau mit der traumhaften Figur, nicht die endlos langen Beine, die vollendeten Rundungen, nicht das lange, dunkle, wallende Haar, welches den perfekten Rahmen für ihre sehr weiblichen und doch markanten Züge formt, er sieht nicht die vollen, sinnlichen Lippen, nicht die lange, gerade, leicht gebogene Nase, deren Flügel zu beben scheinen, er sieht nur ihre Augen, ihre großen blauen Augen von überirdischer Schönheit, von unendlicher Tiefe. Seine Sinne sind wie betäubt, wie hypnotisiert kann er den Blick nicht von diesen Augen lassen. Die Gedanken sind ausgeschaltet, nur sein Ich versinkt unaufhaltsam im tiefen See dieser magischen Augen. Immer tiefer und tiefer sinkt er in den blauen Abgrund. Es wird immer dunkler, immer kälter und immer klarer um ihn. Er sinkt so tief wie nie zuvor in seinem Leben, ohne Halten, ohne Gegenwehr, er will es so. Nach einer blauen Unendlichkeit umgibt ihn eine schwarzblaue Nacht, er schwebt über das Wasser, spürt den Wind, die Wellen, hört das Rauschen des Meeres, er dreht sich im Kreise, die Sinne schwinden ihm, dann nur noch Schwärze…

Unwirklich vernimmt er eine wohlklingende Stimme, Haare kitzeln sein Gesicht, etwas Weiches, unsagbar Zartes berührt ihn sanft. Er öffnet die Augen und will ihnen nicht trauen. Er findet sich an einem Strand wieder, breiter, gelber Sandstrand, das azurblaue Meer brandet in weichen Wogen an das flache Ufer. Feiner Sand bettet ihn zu Füßen einer schattenspendenden Palme. Sonne, kristallklares Wasser, Wellen, Palmen, das Schreien der Vögel, sonst Stille – und diese Frau, dieser fleischgewordene Traum einer Frau, die sich über ihn beugt und lächelt. Träumt er?
Mit ihrer dunklen Stimme wie Samt fragt sie ihn, wie es ihm gehe, und er kann nur stammeln, daß ihm nichts fehle, und…
„Wo bin ich?“
„Auf der Insel der Verstoßenen“, antwortet sie mit sanfter Stimme, und ihr Lächeln erstirbt.
„Wer bist Du?“
„Ich heiße Nirvana“, sagt sie, jetzt wieder lächelnd. Sie schüttelt ihr langes Haar und läßt es im Winde wehen.
„Kannst du aufstehen?“, fragt sie ihn besorgt.
Er versucht, sich zu erheben, und es gelingt ihm fast ohne Probleme, noch etwas unsicher geht er ein paar Schritte. Seine Kleidung ist trocken, er muß also schon recht lange hier gelegen haben. Sie reicht ihm ihre Hand und sagt:
„So wird es besser gehen, oder darf ein Mann keine Schwäche zeigen?“
„Ich wäre ja dumm, würde ich eine so zauberhafte Stütze ausschlagen“, wagt er vorsichtig zu flirten. Sie lächelt.
„Nun, mein Herr, dann bewegen Sie mal Ihre männlichen Knochen zügig und folgen mir“, antwortet sie, plötzlich ernst werdend. Sie zieht ihn mit sich den Strand entlang.
Er läßt seinen Blick schweifen, sich in einem Urlaubsparadiese wähnend, eine Traumbucht mit weißem Sand, blauem Meer, blauem Himmel, dahinter Palmen, sanfte Hügel, Wildnis, Dschungel, in der Ferne grüne Berge, weiße Gipfel, wie aus dem Katalog. Sollte das real sein? Er kann es nicht glauben. Noch weniger kann er an die Wirklichkeit der Erscheinung neben sich glauben, deren weiche Hand mit den schlanken Fingern er warm in seiner Hand spürt, die ihn jedoch erstaunlich kraftvoll vorwärts zieht, als hätte sie Angst vor etwas. Die Sonne steht schon tief und senkt sich auf den Horizont. Sie eilen weiter, jetzt weg vom Strand Richtung Landesinneres. Wo wollte sie hin? Hier war es doch so schön, könnten sie nicht gemeinsam den Sonnenuntergang beobachten?
Als hätte sie seine Gedanken gelesen sagt sie: „Es wird gefährlich hier, wir müssen vor Einbruch der Dunkelheit im Dorf sein“.
„Warum?“
„Das erkläre ich dir später, komm jetzt, schnell!“
Langsam wird ihm bange, und er hastet an ihrer Hand dem Dschungel entgegen. Ein schmaler Pfad windet sich durch die scheinbar undurchdringliche Wildnis, vorbei an den bizarrsten Pflanzen, riesigen Bäumen, von denen Lianen wie Fangarme nach ihnen zu greifen scheinen. Sie stürzen durch die zunehmende Dunkelheit, stolpern, stürzen weiter, immer schneller werdend, nicht links und rechts sehend und kommen schließlich atemlos auf einer weiten Lichtung an. Hier bietet sich ihm ein völlig verblüffender Anblick. Die große Lichtung wird von vielen kleinen Holzhütten gerahmt, aus denen zum Teil Rauch nach oben steigt, mitten hindurch fließt ein munteres Bächlein, an dessen Ufer kleine Kinder lärmen.
Im Wald ist ihm schon der Lärm der vielen Tiere aufgefallen, ein irres Getöse, dem er jedoch keine Arten zuordnen kann, vielleicht Papageien oder Affen oder auch gefährliche Raubtiere, er kann es nicht sagen. Doch nun wird es fast urplötzlich ruhig. Stille, nur der Wind wiegt sanft die Baumwipfel. Noch immer hält er ihre Hand und fühlt sich unendlich wohl. Nirvana scheint erleichtert, läßt seine Hand los, geht zu den Kindern und schickt sie in ihre Hütten. Sie nimmt ein kleines Mädchen auf den Arm, kommt zu ihm zurück und sagt: „Laß uns in unsere Hütte gehen, meine Eltern werden sich über den Besuch freuen“.
Was soll er sonst tun? Er folgt ihr langsam zu einer der Hütten. Das ist schon sehr merkwürdig, wie können Menschen im 21. Jahrhundert in solchen Hütten leben? Dabei sieht Nirvana so gar nicht wie ein Urwaldbewohner aus. Sie ist modern gekleidet, beherrscht seine Sprache perfekt und spricht kein „Uga-Uga-nesisch“. Was hat das zu bedeuten?
Plötzlich bemerkt er etwas Merkwürdiges. Es ist inzwischen immer dunkler geworden, und man kann die Hütten nur noch schemenhaft erkennen, trotzdem wirkt der Weg hell erleuchtet. Er hat schon zuvor, halb in Gedanken einen schwachen Schein wahrgenommen, sich aber nichts dabei gedacht. Doch jetzt sieht er es ganz deutlich, das ist doch nicht möglich, so etwas hat er noch nie gesehen, träumt er doch? Nirvana mit ihren unglaublich blauen Augen und das kleine Mädchen auf ihrem Arm, vielleicht ihre Schwester oder ihre Tochter, denn sie hat dieselben Augen, beide beleuchten den Weg vor ihnen. Nicht etwa mit einer Taschenlampe oder einer anderen Lichtquelle, nein, aber das kann doch nicht wahr sein, nein, mit ihren eigenen Augen! Ihre Augen leuchten in der Dunkelheit wie blaue Laser oder LEDs! Ungläubig folgt er ihnen in die Hütte.

Die Hütte ist hell erleuchtet, strahlt in weiß und wirkt sehr modern, auch wesentlich größer als von außen vermutet. Ein köstlicher Duft nach Essen liegt in der Luft, und erst da wird ihm bewußt, wie hungrig er ist. Er hat ja auch seit heute Morgen nichts gegessen. Was ist überhaupt an diesem seltsamen Tag geschehen?
Hier jedenfalls kann man sich wohlfühlen. Es ist hell, warm und freundlich, es duftet herrlich nach Gebratenem, und an seiner Seite steht das schönste Wesen, das er je gesehen hat. Was will er mehr für den Augenblick? Die Augenlider halb gesenkt sieht Nirvana ihn an und bemerkt munter: „Das ist unser bescheidenes Heim, und dieses ist mein verehrter Vater“, welcher just im Moment den Raum betrat.
„Väterchen, das ist mein neuer Freund von den Menschen“, stellt sie mich etwas eigenartig vor, worauf der große, elegante Mittfünfziger auf mich zutritt und mich höflich begrüßt. Charon wäre sein Name, bemerkt er.
„Mutter werkelt sicher noch in der Küche und zaubert ein wunderbares Mahl, ich habe einen Riesenhunger“, plaudert meine charmante Begleiterin fröhlich weiter.
Nachdem ich auch die Mutter begrüßt habe, die sich mir als Persephone vorstellt, setzen wir uns alle an den großen runden Eßtisch und stillen, dabei wenig sprechend, unseren gewaltigen Appetit. Die Speisen sind exotisch, aber ausgezeichnet, und wir sprechen ihnen reichlich zu. Anschließend setzen wir uns in gemütlicher Runde auf Couch und Sessel bei einem Espresso, und es gibt sogar einen hervorragenden Digestiv unbekannter Rezeptur.
Alle haben diese Augen, versuchen ihn kaum anzublicken, halten den Blick gesenkt oder senken die Lider über die Augen. Seine Verwirrung nimmt zu, und er ist sehr froh, daß es nach dem Essen endlich Zeit und Gelegenheit gibt, seine Neugierde zu befriedigen. Gerade will er die erste seiner vielen Fragen stellen, da bemerkt Charon, daß ihr Gast sicher neugierig sei und viele Fragen an sie habe, und er wolle daher beginnen, seine berechtigte Verwirrung etwas zu lösen.
„Ja, da gibt es tatsächlich viel Merkwürdiges“, sagt er, „doch wo soll ich anfangen? Was hat es mit euren Augen auf sich? Wieso wohnt ihr hier und in dieser Art? Warum habe ich noch nie von euch gehört? Wovor habt ihr Angst in der Dunkelheit? …“